: Die runde Revolution gefällt
Neue, verweichlichte Bälle finden die Zustimmung der Erstrundensieger Becker und Agassi, entschuldigen aber den Verlierer Stich nicht ■ Aus Wimbledon Matti Lieske
Das Jammern über den schnellen Boden in Wimbledon ist so alt wie das Turnier selbst. Schon ein gewisser Spencer Gore, der vor 200 Zuschauern die allerersten Championships im Jahre 1877 gewann und für seinen Sieg 12 Guineen Preisgeld erhielt, beklagte „die Monotonie des Rasentennis“. Das Grummeln war auch 100 Jahre später nicht verstummt, doch richtigen Auftrieb erhielten die Kritiker erst in den letzten Jahren, als eine ganze Generation riesenhafter Aufschläger mit Hyperrackets das gute alte Serve'n'Volley in reines Aufschlaggebolze zu verwandeln drohte. Beim Endspiel Becker-Stich 1991 wurde die Hälfte der Punkte mit weniger als drei Schlägen entschieden, trauriger Höhepunkt war das Vorjahres- Finale zwischen Pete Sampras und Goran Ivanisevic, als schon gelungene Returns Seltenheitswert hatten. „Etwas Schlimmeres als Sampras-Ivanisevic kannst du nicht kriegen“, sagt etwa der Franzose Guy Forget, selbst ein Aufschlagmonster erster Güte.
Vorschläge, die Sache wieder attraktiver zu machen, gab es in Hülle und Fülle. Steffi Grafs Coach Heinz Günthardt regte an, die Schläger schärfer zu reglementieren, die Abschaffung des zweiten Aufschlags wurde gefordert, eine Erhöhung des Netzes, eine Verkleinerung des Aufschlagfeldes, alles Maßnahmen, die entweder die guten Returnierer bevorteilen oder die Zahl der Aufschlagfehler in die Höhe treiben würden, was für die Zuschauer auch nicht sonderlich spannend wäre.
Im Erstrundenmatch Andre Agassis demonstrierte dies der tasmanische Qualifikant Andrew Painter, Nummer 530 der Weltrangliste, der zwar 13 Asse schlug, aber 17 Doppelfehler machte, davon vier hintereinander in einem einzigen Spiel, das er folgerichtig zu null verlor. Aus Angst vor Agassis Returns spielte Painter den zweiten Aufschlag fast so riskant wie denersten, dem staunend zuschauenden Agassi war es recht. Er gewann mit 6:2, 6:2, 6:1 und spielte so, wie er es bei seinem Wimbledon-Sieg 1992 getan hatte: predominantly white, bis hin zum Kopflappen, predominantly perfect.
Agassi selbst hat auch einige Vorschläge zur ihm dienlichen Bremsung der Aufschläger beigesteuert. Netzaufschläge sollten als Fehler gewertet werden, außerdem solle man den Einstand abschaffen. Wer bei 40:40 den nächsten Punkt macht, soll das Spiel gewonnen haben, findet Agassi und argumentiert, daß man bei Aufschlag Sampras oder Ivanisevic kaum die Chance habe, zwei Punkte hintereinander zu machen. Ein As rutsche ihnen immer raus.
So weit, wie es Agassi gern hätte, wollen die Tennis-Funktionäre noch längst nicht gehen. Um so erstaunlicher, daß ausgerechnet die Gralshüter der Tradition vom All England Lawn Tennis Club in revolutionärer Manier voranschritten und die Bälle kurzerhand verweichlichten. Der Wimbledon- Ball des Jahres 1995 ist nach Ansicht Agassis schwerer, nach Meinung Forgets lediglich softer, und nach Auffassung von Pete Sampras macht er auch ein anderes Geräusch. Auf die Frage eines amerikanischen Reporters, ob er dieses imitieren könne, erklärte sich Sampras spontan bereit, den Laut unter Zuhilfenahme des Kopfes des Fragestellers zu demonstrieren, worauf dieser kleinlaut verzichtete.
Als dieser neue Rasenball beim Turnier von Queen's vorgestellt wurde, sprachen manche noch von einem Pudding, inwischen hat sich Gelassenheit bis Zustimmung breitgemacht. „Es nützt dem Tennis“, sagt der glühende Pudding- Befürworter Guy Forget. „6:2, 6:2, 6:1. So weit, so gut. Die Bälle gefallen mir“, stellte Agassi fest: „Der zweite Aufschlag wird ein größerer Faktor. Man kann den Return jetzt leichter vor die Füße des Gegners plazieren“. – „Mehr Zeit beim Return“, konstatierte auch Pete Sampras, während Boris Becker sich zwar eine Woche lang an die neuen Bälle gewöhnen mußte, nun aber „keinen Unterschied mehr“ spürt. Beckers Ersatz-Erstrundenkontrahent Emilio Alvarez kann von Statur und Frisur mit Agassi verglichen werden und hatte sich offenbar auch in dessen XXL-T-Shirt- Sammlung bedient. Der 22jährige spielte ein großes Match, dessen Resultat (6:3, 6:3, 6:4 für Becker) nicht ganz die fast über die gesamte Zeit vorherrschende Ausgeglichenheit widerspiegelte. „Einige außerordentliche Punkte“, seien dem Spanier gelungen, lobte der vom Publikum liebevoll empfangene Becker, unter anderem ein rückwärts durch die Beine gespielter Passierschlag, dessen Imitation Becker wenig später in äußerst peinlicher Manier mißlang.
Während die Ex-Champions Agassi und Becker bewiesen, daß sie ihre Verletzungen weitgehend überwunden haben, die Ex-Championesse Steffi Graf und Titelverteidigerin Conchita Martinez ebenfalls keine Mühe hatten, die zweite Runde zu erreichen, wurde zwei weiteren Wimbledonsiegern übel mitgespielt. Der nahezu ganzkörperbandagierte Australier Pat Cash, Gewinner von 1987, mußte verletzt aufgeben, und für Michael Stich wurde die Bühne seiner Heldenoper von 1991, der Center Court, zum Favoritenfriedhof, eine Rolle, die eigentlich dem Court 1 vorbehalten ist, wohin Agassi und Becker abgeschoben wurden. Stich hatte sich offenbar so sehr an den Rübenacker von Halle/Westfalen gewöhnt, daß ihm auf dem perfekt getrimmten Rasen von Wimbledon beim 4:6, 6:7, 1:6 gegen Jacco Eltingh praktisch nichts gelang. „Jacco hat jeden Schlag besser gespielt als ich“, sagte Stich, dem kein einziges As gelungen war, was aber wohl kaum an den Bällen lag, denn, sagt Agassi: „Man kann immer noch seine Asse schlagen“. Wie Goran Ivanisevic zum Beispiel (22 Stück in drei Sätzen). Aber dem Kroaten kann man ja auch, wie Sampras bemerkte, einen Basketball in die Hand drücken, „und er schlägt immer noch ein As“. Spencer Gore jedenfalls hätte auch mit neuen Bällen nicht viel Vergnügen im Wimbledon von 1995.
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