Die Tarifautonomie muß gewahrt bleiben

■ Das Bundesverfassungsgericht warnt Arbeitgeber vor rücksichtsloser Ausschöpfung der Möglichkeiten, die ihnen der Paragraph 116 AFG bietet

Karlsruhe (taz) – Der Streikerfolg bei der diesjährigen Metalltarifrunde kam für die Gewerkschaften ungünstig. Denn einerseits hatte die IG Metall vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geklagt, das durch den novellierten Streikparagraphen 116 AFG (siehe Kasten) ihre Streikfähigkeit gebrochen werde. Andererseits war sie in Bayern stark genug, einen Pilotabschluß zu erstreiken, der allgemein als Erfolg gewertet wurde. Unter diesen Bedingungen konnte das BVerfG der Verfassungsbeschwerde gestern einfach nicht stattgeben. Immerhin ist nun aber klargestellt, daß es Aufgabe von Gesetzgeber und Gerichten ist, auch zukünftig das Gleichgewicht in der Tarifautonomie zu gewährleisten. Und eine solche Korrektur könnte schneller erforderlich werden als bislang erwartet. Denn die Arbeitgeber stehen unter Handlungsdruck. Immer häufiger stellen sie die Existenzberechtigung des zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelten Flächentarifvertrags in Frage. Gegenmodell sind Firmentarifverträge, wie sie jüngst bei IBM ausgehandelt wurden.

Kein Wunder also, daß die Arbeitgeberverbände versuchen, wieder in die Offensive zu kommen. Eine Möglichkeit ist da die aggressivere Führung von Arbeitskämpfen. So soll eine Datenbank über in Deutschland stark verflochtene Betriebe aufgebaut werden. In diesen Unternehmen kann dann während eines Arbeitskampfs gezielt ausgesperrt werden. In der Folge käme es zu Materialknappheit außerhalb des eigentlich betroffenen Tarifgebiets. Dortige ArbeitnehmerInnen müßten nach Hause gehen und bekämen kein Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld. Das nämlich verbietet der novellierte Streikparagraph 116 AFG unter dem Vorwand, so bliebe die „Neutralität“ der Bundesanstalt für Arbeit gewahrt.

Doch allein das Beispiel zeigt, daß es mit der Neutralität nicht weit her ist. Arbeitgeber könnten durch derartige „Minimax“-Aussperrungen den Innendruck auf die Gewerkschaften massiv erhöhen. Denn entweder müssen diese nun auch an die nur mittelbar vom Arbeitskampf Betroffenen Streikgeld bezahlen – dann ist die Gewerkschaft schnell am Ende –, oder sie verzichtet darauf, muß dann aber mit der massiven Unzufriedenheit der zeitweilig völlig brotlos Gewordenen rechnen. Derartigen Plänen hat das Bundesverfassungsgericht nun eine Abfuhr erteilt. Zwar hat es die Verfassungsmäßigkeit des Paragraphen 116 AFG im Prinzip bestätigt, geknüpft ist diese Einschätzung jedoch an das Weiterbestehen des strukturellen Gleichgewichts zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Im Falle einer Minimax- Aussperrungstaktik wäre dieses verletzt. Und zwar nicht aufgrund interner Probleme der Gewerkschaften, sondern weil die Arbeitgeber hier gezielt den neuen Paragraphen 116 einsetzen können.

Im Ernstfall könnten die Gerichte dem einen Riegel vorschieben. Arbeitsgerichte könnten eine Aussperrung mit diesem Hintergrund für „unverhältnismäßig“ erklären. Sozialgerichte könnten ihrerseits entgegen dem Wortlaut des Paragraphen 116 AFG doch Kurzarbeits- und Arbeitslosengeld zubilligen. Die Rückendeckung des BVerG hätten sie: „Eine derartige Auslegung könnte zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie geboten sein, wenn sonst ein strukturelles Übergewicht der Arbeitgeber bei Arbeitskämpfen eintreten würde“, heißt es im Urteil. Insofern hat sich die Gewerkschaftsklage gelohnt. Die Arbeitgeberverbände müssen sich etwas anderes einfallen lassen, um ihre Akzeptanz im Unternehmerlager unter Beweis zu stellen. Christian Rath