Ein Jubilar hat Hunger

Unnostalgisch gestimmt trifft Boris Becker exakt zehn Jahre nach seinem ersten Wimbledonsieg heute im Halbfinale auf Andre Agassi  ■ Aus Wimbledon Matti Lieske

Vor einer Woche hatte sich Andre Agassi noch über den zum Engländer konvertierten Kanadier Greg Rusedski lustig gemacht, der plötzlich so britische Worte wie brilliant und lovely gebrauche, mittlerweile zeigt er, der früher Wimbledon haßte wie die Pest, selbst Anwandlungen fortgeschrittener Anglophilie. „Ich werde lieber einen Nachmittagstee zu mir nehmen“, sagte er auf die Frage, ob er sich das Match seiner potentiellen Gegner Boris Becker und Cédric Pioline anschauen werde, „ich habe Boris oft genug spielen sehen“. Vermutlich hat er aber dann doch noch einen guten Teil des Matches am Fernseher erlebt, denn nachdem es zunächst so aussah, als würde es tatsächlich einige Tassen Tee nicht überdauern, hat es sich am Ende über vier Stunden und elf Minuten gezogen.

Agassi, Sampras, Ivanisevic überstanden ihre Viertelfinals relativ sicher, Boris Becker war von den vier Topgesetzten der einzige, der größere Schwierigkeiten mit der Erfüllung seines Plansolls hatte. „Ich würde erwarten, daß Boris dieses Match gewinnt“, hatte Andre Agassi gesagt, nachdem er den niederländischen Stich-Bezwinger Jacco Eltingh kurz und knapp in drei Sätzen aus dem Turnier befördert hatte. Agassi erwies sich an diesem Tag nicht nur als begnadeter Tennisspieler, sondern auch als großer Prophet, was vermutlich daran liegt, daß auch er weiß, was der Mensch zum Gewinn eines heiß umkämpften Tennismatches braucht: „Fitneß und Siegesbegierde“ (Becker).

Seit Becker heute vor auf den Tag genau zehn Jahren als jüngster 17jähriger Leimener aller Zeiten Wimbledon gewann, hatte er die beiden erforderlichen Eigenschaften in der Regel parat. Selten vergißt er, darauf hinzuweisen, daß er seit seinem historischen Coming- out durchweg in den „Top eleven“ der Weltrangliste rangierte, und dies, wie Pioline bemerkt, „nicht, weil er Becker heißt“. Sondern: „Er ist einfach ein guter Spieler.“ Fit und siegesbegierig.

Mit 6:3, 6:1 gewann Becker die ersten beiden Sätze, spielte sein bisher bestes Tennis bei diesem Turnier und dominierte auch im dritten Satz, konnte aber diverse Breakpunkte nicht verwerten. Pioline, der sich einen Bauchmuskel gezerrt hatte, dachte sogar an Aufgabe, überlegte sich aber dann, daß es schließlich Wimbledon sei, hielt durch und rettete sich in den Tie- Break, den Becker mit einem Doppelfehler einleitete. Der Beginn einer langen Agonie, die bis weit in den fünften Satz hinein anhielt.

Während der Franzose plötzlich grandios aufspielte, wurde Beckers Rückhand schwächer und sein erster Aufschlag kam nur noch selten, auch wenn er das selbst nicht wahrhaben wollte. „Wie viele Breaks habe ich bekommen? Eben, ein einziges“, sagte er, so schlecht könne der Aufschlag also nicht gewesen sein. Sein Glück war jedoch eher, daß Pioline nicht besonders gut returnierte, dennoch hätte das eine Break zu Beginn des fünften Satzes fast das Match entschieden. „Es gab Momente, in denen man annehmen konnte, daß der Sieger Pioline heißen würde“, mußte Becker zugeben, doch „Fitneß und Siegesbegierde“ hielten ihn aufrecht. „Auch als ich ein Break zurücklag, hatte ich den Hunger, den Willen zu sagen, daß ich nicht aufgebe und daß der Typ noch weitere große 15 oder 20 Minuten spielen muß, um mich heute zu schlagen.“ Genau das gelang Pioline nicht. Er verlor seinen Aufschlag zum 4:4, und mit seinem fünften Matchball gewann Becker schließlich 9:7.

Das heutige Traumhalbfinale Agassi gegen Becker an dessem zehnjährigen Geburtstag ist damit perfekt, kein Grund für Becker, das Fazit einer Dekade als Tennis- Ikone zu ziehen. „Ich blicke höchstens in die Zukunft, aber nicht in die Vergangenheit“, wehrte er alle diesbezüglichen Anfragen ab. Die nahe Zukunft sieht allerdings nicht unbedingt rosig aus, denn es spricht einiges dafür, daß ihm Agassi, gegen den er die letzten acht Aufeinandertreffen verloren hat, das Jubiläum gründlich versauen wird.

Der Ami mit den monströsen Hosen spielte gegen Jacco Eltingh zwar fast perfekt, meint aber, anders als Steffi Graf, daß er durchaus zu schlagen sei, auch wenn er so gut spiele. „Wenn ich einen Typen gegen mich habe wie Sampras oder Ivanisevic, der 35 Asse schlägt, ist es ziemlich egal, wie gut ich returniere.“ Becker kam in seiner Aufzählung nicht vor.