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Immer wieder die gleichen Gesichter

Lehrreiche Milchboxen, Horrorgirls, Eiderenten, Tabakversuchsbeete, Tütensuppen: Island, das Land, wo Männer mit Vornamen „Ausländer“ heißen, lebt in Angst vor dem Verlust der Identität und tut etwas dagegen  ■ Von Wolfgang Müller

Zaghaft greift der Fremde dieser Tage in die Kühlregale der Supermärkte von Reykjavik, um sich einen Liter Nýmjólk, Frischmilch, zu holen. Auf der Verpackung ist der Kopf eines langhaarigen Mädchens abgebildet, das ganz offensichtlich etwas Furchterregendes erblickt hat. Ihr Mund zum Schrei geöffnet, die Augen voller Angst – die Zeichnung erinnert an Horror- Comics. In erster Linie wendet sich die Botschaft denn auch an die isländische Jugend. Diese, so beklagte jüngst der renommierte Dolmetscher und Sprachsachverständige Hrafn Óttarsson (41) in der größten Tageszeitung, dem Morgunbladid, habe keinen Respekt mehr vor der Schönheit der isländischen Sprache.

Unter der Überschrift „Wir sind reich!“ illustriert das Horror-Girl einen Text über Angst. Die Botschaft lautet: „Keine Angst vor der Vielfältigkeit der Sprache! Denn die isländische Sprache hat einen reichen Wortschatz. Zum Beispiel kann man das Wort ,Angst‘ auf vielerlei Weise ausdrücken.“ Es folgen ein Dutzend konjugierter Redewendungen, die etwa „sich fürchten vor“, „Angst haben“ entsprechen und so weiter.

Die lehrreiche Milchbox, mittlerweile existieren weitere Varianten zu anderen Begriffen, soll laut Hrafn Óttarsson der zunehmenden Verarmung der Sprache Einhalt gebieten. Er selbst habe es durch seinen jüngsten Sohn Einar (13) erlebt, der nur mehr das Wort ógedslegt gebrauche – für alles von „widerlich“ bis „super“. „Den ganzen Tag immer dieses eine Wort: ógedslegt. Das ist doch recht unerfreulich“, meint Hrafn. „Die Angst vor dem Verlust der Vielfalt der isländischen Sprache ist fest verwurzelt mit der Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität“, ergänzt Professor Baldur Jónsson von der isländischen Sprachgesellschaft, der islensk málstöd. In deren Domizil in der Aragötu macht er mich darauf aufmerksam, daß das englische Wort titmouse, Gattungsbezeichnung für die Familie der Meisen, eine Kombination aus dem isländischen tittr, klein, akrobatisch, und dem Übersetzungshörfehler der deutschen „Meise“ in das englische mouse darstellt: „Es war also ein Mißverständnis, wie es seinerzeit auch dem Meerrettich widerfuhr. Da ,Meer‘ dem englischen ,mare‘, Pferd, ähnlich klingt, wurde die Wurzel in England zum horse radish.“ Vergnügt trommelt Baldur Jónsson mit den Fingern auf der Tischkante.

Pferde gibt es auch auf Videy, einer meerumschlungenen Insel vor der Hauptstadt. „Nein, keinen Meerrettich, aber ein tóbakslaut, ein Tabakversuchsbeet“, versichert Thórir Stephensen: Der ehemalige Dompfarrer von Reykjavik erinnert sich gern an seine Messe in Deutschland. „1962 war das, in München. Die erste isländische Predigt in Deutschland überhaupt.“ Heute ist er der Kurator der Insel und klärt die mit der Fähre kommenden Touristen gerne auf: „Natürlich hat das nicht geklappt mit dem Tabakanbau, obwohl das Beet sehr windgeschützt lag. Der Bürgermeister war ein starker Raucher und wollte es halt mal ausprobieren.“

Treten Sie nicht auf die Eiderenten!

Von den hundert EinwohnerInnen, die Videy Anfang des 20. Jahrhunderts zählte, suchten nach und nach alle Arbeit im entstehenden Hafen von Reykjavik. 1943 wurde es von den letzten verlassen. „Videy mißt 1,7 Quadratkilometer, ist also etwa so groß wie Monaco mit 1,8“, fährt Thórir Stephensen fort, „und es leben nunmehr wieder Menschen hier: der Verwalter, seine Frau und ihr Kind.“ Von 1819 bis 1844 war es das wichtigste Kulturzentrum des Landes. Der Präsident des Obersten Landgerichts, Magnus Stephensen, ein Urahne des Kurators, ließ die einzige damals in Island vorhandene Druckerei auf die Insel bringen, um allgemeinbildende Schriften zu drucken. Er gilt als Vorkämpfer der Aufklärung und setzte sich für die Liberalisierung des Handels und für humanere Gesetze ein.

„Treten Sie bitte nicht in die Nester der Eiderenten“, warnt mich Thórir. Große Teile der Insel sind in der Brutsaison Anfang Mai bis Ende Juli für BesucherInnen gesperrt. Die dort nistenden Eiderenten nutzen die von ihnen aus der Brust herausgezupften Flaumfedern als wärmende Inneneinlage für das Nest. Diese Federn werden gerne von Eiderenten-Bauern gesammelt. Jedes Nest enthält sechs bis sieben Gramm der Kostbarkeit und wird in Spezialgeschäften als exquisite Bettfüllung weltweit verkauft, 2.000 Mark kann so eine Daunenfüllung schon kosten.

Eine weitere Gefahr für einheimische Bodenbrüter stellt heilbringender Tau auf Wiesen zur Mittsommernacht dar. Die alte Sitte, daß man sich am 24. Juni, dem Johannistag, nackt auf dem taufrischen Rasen wälzen soll, um Ungeziefer, Jucken und 18 weitere Krankheiten zu heilen, brachte schon manches Nest des Goldregenpfeifers in Bedrängnis. Diese taubengroßen Vögel auf langen Beinen lassen immerfort ein eintöniges Piep-Piep erklingen, wenn man ihrer Brut zu nahe kommt. Auf den Wiesen um den Öskuhlid, einer steinernen Anhöhe im Zentrum der Hauptstadt, auf der der geothermische Bau Perlan steht, versuchen einige dieser Vögel ihre Nester durch Ablenkungsmanöver vor den nackten Graswälzern zu schützen. Der Tau muß übrigens am Körper trocknen, sonst bringt die ganze Aktion nichts. So steht es in dem umfangreichen Nachschlagewerk „Aus der Geschichte der Tage“ von Arni Björnsson. „Heute pflegen diesen Brauch nur ein paar exzentrische Künstler und Mitglieder der heidnischen Glaubensgemeinschaft“, verrät mir später Felix Bergsson, ein bekannter Schauspieler, der täglich nachmittags in der Kindersendung „Unsere Stunde“ auf dem Bildschirm und anschließend im Café Paris beim Kaffeetrinken zu sehen ist. „Ich glaube, daß die Künstler hier Angst davor haben, zuviel in Erscheinung zu treten. Immer wieder das gleiche Gesicht in allen Sendungen, das ist nicht gut. Irgendwann können die Leute das Gesicht nicht mehr sehen.“ Das ist gar nicht so einfach in einem Land, in dem die durchschnittliche Arbeitszeit mit 54 Stunden in der Woche höher als in Japan ist.

Die wirtschaftliche Situation zwingt die IsländerInnen dazu, eine Zweit- und oft gar eine Drittbeschäftigung auszuüben. Was verdient wird, fließt meist direkt in den Konsum. Sparen ist zwar nicht mehr so verlustreich wie vor einigen Jahren, aber gelebt wird lieber heute als morgen. Um die 20.000 Mark Schulden zählt die Statistik pro Einwohner.

Tütensuppen und Quellwasser

Daß die Lebensmittelpreise zu den höchsten in Europa zählen, wissen natürlich auch die deutschen Rucksacktouristen, die jährlich im Sommer die Insel bevölkern. Auf den zahlreich vorhandenen Zeltplätzen machen sie sich vorwiegend aus der Heimat mitgebrachte Tütensuppen in Quellwasser heiß. Dabei sind Lammkoteletts und frischer Fisch köstlich und durchaus bezahlbar. Daß bei eintöniger Ernährung aus der Tüte Mangelerscheinungen nicht ausbleiben können, liegt auf der Hand.

„Ganz schön ausgelaugt von der Tour“, schreibt Markus Klein aus Villingen-Schwenningen am 13. Juli 1994 in das Gästebuch des BSI-Travel-Büros am zentralen Busbahnhof von Reykjavik. Und Jutta Heise aus Dortmund vermerkt trocken: „Nice landscape, but no action here.“ Doch mehrheitlich ist Begeisterung zu spüren. Olaf Biller oder Bitter vermerkt in etwas schlampiger Handschrift: „Tolles Land – nur Sonnenschein – sehr gut zu trampen – Hütte am Snaefellsjoküll defekt.“

Deutsche Touristen sind im allgemeinen gerngesehene Gäste, auch wenn ihnen gelegentlich nachgesagt wird, sie würden nicht verwendete Zuckerstücken in Servietten einwickeln und am Frühstücksbuffett ein paar Stullen auf Vorrat schmieren – für die Wanderung später. Dieses Jahr gab es bereits einige Urlauber, besser gesagt Katastrophentouristen, die sich den Mitte Januar durch eine gewaltige Schneelawine zerstörten Ort Sudavik im Nordwesten anschauen wollten. Die Lawine verschüttete die 160 EinwohnerInnen zählende Gemeinde und riß 14 Menschen in den Tod. Veturlidi Gudnarsson, Dolmetscher für Englisch- und Deutschsprachiges beim isländischen Fernsehen, auf die Frage, ob der Ort wieder aufgebaut würde: „Da gibt es nichts aufzubauen. Sudavik ist vollkommen zerstört. Einige Kilometer weiter südlich im Fjord, an einer sicheren Stelle, wird ein neues Sudavik entstehen. Man ist schon dabei, die Pläne in die Tat umzusetzen.“

Das vulkanisch aktivste Land der Welt

Veturlidi ist selbst im fast menschenleeren Nordwesten aufgewachsen. Seine Schwester lebt noch immer dort. „Sie wurde dieses Jahr über zwanzigmal evakuiert, vorsichtshalber, wegen Lawinengefahr.“

Neben den Gefahren durch Schneelawinen gibt es die durch Erdbeben und Vulkanausbruch. Alle fünf Jahre durchschnittlich öffnet sich eine Feuerspalte oder bricht ein Vulkan aus. Damit ist das Land das vulkanisch aktivste der Welt. Doch Angst vor Naturkatastrophen scheint niemand zu haben, eher Respekt.

Als in der Stadt Heimaey auf den Vestmannaeyar-Inseln am 23. Januar 1973 die Erde auf 1.600 Metern riß und Lavafontänen hoch in die Luft schossen, wurden die 5.300 EinwohnerInnen von der zufällig komplett am Hafen ankernden Fischereiflotte über Nacht auf das Festland evakuiert. Der Ausbruch währte fünf Monate, begrub ein Drittel aller Häuser und vergrößerte die Insel von 8,8 auf 11,3 Quadratkilometer. In die entstandenen Lavafelder haben die Einwohner dann kurz nach ihrer Rückkehr mit Hilfe von Bulldozern kurvenreiche Straßen hineingefräst. Diese werden von den überaus zahlreichen Autofahrern gern für das Fahren im Kreis genutzt. Neben der Fahrbahn qualmt es noch heute aus allen Ritzen. Mittels eines Pipeline-Systems pumpt man nun kaltes Wasser durch das Areal. Es erhitzt sich und heizt die Häuser der Stadt zum Nulltarif.

Der Weg zum Vulkan Eldfell führt an den Ruinen eines mit Lavamassen bedeckten Hauses vorbei. „Das hat man absichtlich da stehenlassen – für die Touristen“, sagt Magnus Baldursson, Fischer der Flotte. „Gehen Sie doch mal ins Restaurant am Hafen. Da können Sie eine hiesige Spezialität, geschmorte Papageientaucherbrust, kosten.“ Diese drolligen und sehr zutraulichen Vögel werden auf den Inseln mittels großer Kescher gefangen und als Delikatesse in der Geflügeltheke angeboten. Die jährliche Fangquote ist auf 30.000 Vögel begrenzt. Vogelfreunde können natürlich auch mit einer Postkarte vorliebnehmen. Der lundi ist, besonders mit vielen kleinen aufgereihten Fischen im Schnabel, ein beliebtes Fotomotiv.

Viel ängstlicher als Papageientaucher gegenüber Menschen ist man im schönen Sólon Islandus in Reykjavik. Das Lokal trägt seinen Namen nach einem naiven Künstler, der im vorigen Jahrhundert durch das Land vagabundierte und dabei viele wunderschöne Farbstiftzeichnungen anfertigte. Sie erinnern an Zeichnungen von Friedrich Schröder-Sonnenstern. Nach einer Ausstellungseröffnung im Nordischen Haus – Künstler von Grönland bis Finnland stellten Konzepte zum Thema Brunnen und Wasserspiel vor – traf man sich zum Umtrunk im zweiten Stock des seit drei Jahren existierenden Künstler-Cafés. Gerade als ich die Hälfte der Treppe hochgestiegen bin, stürzt ein junger Mann auf mich zu und tastet professionell meine Jacke ab. Alles geschieht in Sekundenbruchteilen, er murmelt „Afsakid“, Entschuldigung, und eilt wieder davon. „Was war denn das?“ frage ich Ástridur Ólafsdottir, eine Künstlerin der Brunnen- Schau. Sie lacht und sagt: „Er dachte, du schmuggelst Alkohol in das Lokal. Er hat dich ganz offensichtlich für einen Isländer gehalten.“ Dann möchte ich doch gerne Erlendur heißen. Dieser in Island häufige Männername heißt übersetzt „Ausländer“.

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