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Etwas verloren in der Ecke

■ Der Bürgermeister der UN-Schutzzone Tuzla forderte in Straßburg die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien

Der Bürgermeister der UNO- Schutzzone Tuzla war gestern im Europäischen Parlament in Straßburg, aber nur wenige der Abgeordneten haben es überhaupt mitbekommen. Noch am Vormittag hatten 120 Parlamentarier einen flammenden Aufruf gegen die Tatenlosigkeit der UNO nach dem Fall von Srebrenica unterschrieben. Am Nachmittag waren sie dann schon wieder zu sehr mit der Wahl eines Bürgerbeauftragten beschäftigt, als daß sie Selim Belagic bemerkt hätten, der etwas verloren in einer Ecke saß.

Belagic hat es aufgegeben, von den Europäern Hilfe zu erwarten. „Die UNO redet, die Nato redet und die Europäer reden“, sagte er in einem Gespräch mit der taz, „aber sie tun nichts.“ Die Schutzzonen seien nichts wert, weil die UNO ihnen keinerlei Sicherheit garantiere. „Wenn Europa die ethnische Säuberung will, dann kann sie die jetzt haben“, meinte er bitter in Anspielung auf den von der EU favorisierten Teilungsplan, der den bosnischen Serben 49 Prozent von Bosnien-Herzegowina zuspricht.

Die Industriestadt Tuzla mit ihren 130.000 Einwohnern sei zur Zeit nicht in Gefahr, sagte er, weil die Stadt in der freien bosnischen Zone liege und von der bosnischen Armee geschützt werde. „Aber ich habe Angst um die Menschen in Srebrenica und Žepa.“ „Wir können uns nur selbst helfen“, wiederholte Belagic, „die bosnische Armee wird irgendwann die Städte zurückerobern müssen.“ Wenn die UNO gewollt hätte, dann hätte sie die Schutzzonen halten können, schätzt er. Auch das Europäische Parlament könnte mehr tun, so Belagic düster, der damit vor allem die Aufhebung des Waffenembargos gegen die Bosnier meinte. Aber das wüßten die Abgeordneten ohnehin.

Der Bürgermeister von Tuzla war nach Straßburg gekommen, um an der Trauerveranstaltung für den italienischen Abgeordneten der Grünen, Alexander Langer, teilzunehmen. Langer, der sich auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in Südtirol besonders gegen die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien eingesetzt hatte und eine stärkere Verantworung der Europäischen Union einklagte, hat sich in der letzen Woche das Leben genommen. „Wir haben einen leidenschaftlichen Fürsprecher verloren“, sagte Selim Belagic. Alois Berger, Straßburg

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