: Zahlen runter, Wirtschaft rauf
Rußlands Wirtschaft steht real nicht so schlecht da, wie die Statistik glauben macht / Früher wurde nach oben manipuliert, heute nach unten ■ Aus Moskau K.-H. Donath
Ein räuberischer Kapitalismus, gesetzlos, doch gleichzeitig sehr vital und lebensfähig“, beschrieb Milliardär und Osteuropasponsor George Soros die wirtschaftliche Entwicklung in Rußland. Vager und zugleich treffender kann die Einschätzung der Wirtschaft im vierten Jahr ihres Umbaus nicht ausfallen. Das Land hat sein Gesicht völlig verändert. Zusammenbruchsszenarien der Antireformer – oder auch nur der Regierungsgegner – haben sich nicht bewahrheitet, die Wirtschaftslenker sind indes von höchst zuversichtlichen Zukunftsprognosen zu bescheidenerem Zweckoptimismus übergegangen.
Nach der Privatisierung von fast 16.000 mittleren und größeren Unternehmen stand der private Sektor 1994 schon für 62 Prozent des offiziellen Bruttosozialprodukts. 2.500 kommerzielle Banken wurden eröffnet, und 40 Millionen Bürger sind im Besitz von Aktien. Der Anteil des Staates an der Wirtschaft soll inzwischen geringer sein als in Italien. Doch noch ist das Bild der Wirtschaft von einem dramatischen Produktionsrückgang geprägt. Zwar ist die Produktion wohl nicht, wie von offiziellen Stellen behauptet, von 1989 bis 1994 um die Hälfte zurückgegangen. Schließlich ging auch der Elektrizitätsverbrauch im gleichen Zeitraum nur um ein Fünftel zurück. Und die Zahl der Arbeitslosen hat offiziell gerade die Zwei-Millionen-Marke erreicht. Selbst inoffiziell werden erst sechs Millionen Joblose vermutet, bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von 70 Millionen.
Und noch ein Faktor gibt Anlaß zu Überraschung: Der Einzelhandelsumsatz, der 1991 einen heftigen Einbruch erlitt, liegt heute real wieder über dem Niveau von 1989. Die Einkommen, die den Haushalten zur Verfügung stehen, entwickeln sich im gleichen Rahmen.
Offensichtlich unterscheiden sich die staatlichen Bestandsaufnahmen von den wirklich im Lande vorgehenden Wirtschaftsaktivitäten. Eine Erklärung für die Differenz setzt am Entstehen der Statistik an. Fälschten früher die Wirtschaftsbosse die Output-Zahlen, um in den Genuß staatlicher Prämien zu gelangen, korrigeren die heutigen Direktoren ihre Ziffern nach unten, um der Steuerschraube zu entgehen.
Die Schattenökonomie, die in den offiziellen Zahlen nicht vorkommt, tut ein übriges: Sie wird auf inzwischen 25 bis 45 Prozent des offiziellen Bruttosozialprodukts beziffert. Die wenigsten der kleinen Kiosk-, Geschäftsbesitzer und Handwerker werden offiziell erfaßt. Die meisten von ihnen haben offiziell noch einen schlechtbezahlten Job in der Staatsökonomie. Das Durchschnittseinkommen lag bei 100 US-Dollar.
Für Lichtblicke in der Industrie zeichnen vornehmlich neue Kapitalstrukturen verantwortlich. In der zweiten Etappe der Privatisierung können in- und ausländische Investoren Unternehmenskapital erwerben. Gerade die rohstoffnahen Unternehmen der Metallurgie und chemischen Industrie stehen durch steigende Exportaufträge recht gut da.
Doch bis auf den heutigen Tag kranken viele Großbetriebe und Giganten an der Inflexibilität der alten Manager. Generaldirektor Korowin vom riesigen Maschinenbaukombinat „Uralmasch“ klagte, nur fünf Prozent der leitenden Angestellten verstünden und unterstützten ihn, 45 Prozent würden begreifen, aber nicht unbedingt helfen. Der Rest sei gegen alles, was er unternehme. Dabei gehe es sogar voran. „Im Vergleich zu vor drei Jahren, als alle gegen mich waren, ist das ein Fortschritt.“
Probleme gibt es vor allem mit der Effizienz. Die Umsätze des großen Autoherstellers Awtowas etwa, der 1991 an die 600.000 Wagen produzierte und ein Drittel davon ins Ausland absetzte, scheinen auf den ersten Blick beeindruckend. Genauer betrachtet, liefert er indes ein Paradebeispiel niedriger Produktivität: Jeder Arbeiter stellt im Jahr gerade mal etwas mehr als einen Wagen her.
Neben einer neuen Mentalität fehlt es trotz der zweiten Phase der Privatisierung aber nach wie vor an Geld. Investoren fürchten die Inflation. Und sie fürchten immer noch, Eigentumsrechte könnten widerrufen werden. Nach staatlichen Schätzungen halten deshalb russische Firmen und Privatpersonen 24 Milliarden Dollar auf „offshore“-Konten, statt sie in die heimische Wirtschaft zu stecken. Die Dunkelziffer wird auf das Doppelte geschätzt.
Die Regierung unternimmt durchaus Anstrengungen, dieses Geld zurückzulocken. Bis zum Jahresende verspricht Finanzminister Panskow, die monatliche Inflationsrate auf drei Prozent zu drücken. Dazu beitragen kann die seit 1. Juli in Kraft getretene Festlegung des Rubel-Dollarkurses. Bis zum 1. Oktober soll der Wert des Dollar nur noch zwischen 4.500 und 5.000 Rubel floatieren. Das Vertrauen in die heimische Währung könne so gesteigert werden, hofft man, und flüchtiges Kapital zurückkehren.
Wenn politische Überraschungen den Stabilisierungskurs nicht kaputtmachen: wie zum Beispiel in diesem Jahr der Tschetschenienkrieg mit den folgenden Zuwendungen an den militärisch-industriellen Komplex.
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