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Abrechnung mit einem Vater

Choreographisches Theater jenseits von Kresnik: Das Theater Skoronel zeigt jetzt für drei Wochen eine kleine Werkschau in der Werkstatt des Schiller Theaters  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Seine Augen seien wie blaue Himmel hinter verschlossenen Lidern, schrieb Else Lasker-Schüler über den Expressionisten, Dada- Trommler und Revolutionär, den Deserteur, Börsenkorrespondenten und Meuterer Franz Jung.

„Sie hatte jeden Kontakt zur Umwelt und den Vorgängen draußen in der Welt verloren. Der Krieg muß für sie etwas völlig Unvorstellbares und auch völlig Unverständliches gewesen sein“, schrieb der wiederum im Kriegsjahr 1915 über die aus der Wirklichkeit emigrierte Dichterin. Natürlich kannten sich die beiden. Wer kannte sich nicht im regen Berliner Kulturleben der 10er und 20er Jahre? Aber erstaunlicherweise reagierten sie aufeinander nicht wie Feuer und Wasser, sondern waren zeitweise sogar miteinander befreundet.

Jetzt sind in der meist unbespielten Werkstatt des Schiller Theaters zwei Inszenierungen über diese völlig verschiedenen, exemplarischen Außenseiter der Weimarer Republik zu sehen. In Szene gesetzt vom Theater Skoronel, den Regisseuren Judith Kuckart und Jörg Auffenanger. „Inhaltlich haben die beiden Stücke allerdings nichts miteinander zu tun“, sagt Judith Kuckart. „Was die beiden Arbeiten verbindet, ist die fiktive Situation, in die wir unsere Protagonisten hineingestellt haben.“

Wir wandern durch das riesige, verlassene Foyer des als Staatstheater entsorgten Schiller Theaters, finden einen einsamen, sauberen Aschenbecher und lassen uns schließlich hinter der Garderobe, dem einzigen befensterten Ort, nieder. Im September kommt „A Chorus Line“ in der „echten“ Broadway-Fassung in Berlins jüngstes und derzeit hart umworbenes Musicaltheater. Jetzt, während der Ferien, ist hier geschlossen – so, wie in richtigen Theatern auch – und das Schiller Theater fungiert als gigantische Hinterbühne der kleinen Werkstatt.

Drei Skoronel-Stücke stehen bis zum 7. August auf dem Programm und jede Menge Lesungen. Von Katja Lange-Müller und Uwe Kolbe, von Irina Liebmann und Judith Kuckart herself, von F.C. Delius und Ingo Schulze, von Angelika Klüssendorf und Thomas Hettche und zu guter Letzt von Wolfgang Hilbig. „Nur Durs Grünbein kommt nicht. Der ist in Urlaub.“ Schade.

„Fräulein Dagny, bitte“ heißt der erste, mit dem Landestheater Tübingen koproduzierte Stück, das wenig mit Franz Jung und sehr viel mit seiner Tochter Dagny zu tun hat. Der Tochter, die im März 1945 auf der Flucht vor dem Faschismus und auf der Suche nach dem Vater in einem Wiener Krankenhaus gestorben ist. An Lungenentzündung, heißt es offiziell. „Durch eine Injektion vergiftet“, vermutet der Papa, der über die Verzweifeltheiten der vernachlässigten Tochter einen 180 Seiten langen, ziemlich schlechten Roman zu Papier gebracht hat.

In dem von Judith Kuckart geschriebenen und von ihr und Jörg Auffenanger gemeinsam inszenierten Stück hat er nichts zu sagen. Als stumme, von der Tochter imaginierte Figur wandelt er unbeteiligt und starr durch das Bühnengeschehen. Stellt sich manchmal unter vom Schnürboden herabbaumelnde Hüte, die nicht zu ihm herunterreichen, während sich die sterbende Dagny (Martina Esser) im Krankenhausbett wälzt und ihren „Schutzengel“ (Kirsten Hartung) noch einmal rückwärts durch ihr verpfuschtes, unglückliches Leben schickt.

Dagny Jung, in ihrer Kinder- und Jugendzeit von der Mutter zur Geliebten, zur Großmutter und zur nächsten Geliebten herumgereicht, hat sich alle Frauen gleichzeitig auf die Bühne phantasiert. Die Stimmen und Zeiten schwellen zu einem immer lauter werdenden Echo an, in dem es nur um eines geht: den abwesenden F.J.

Das ehemalige Tanztheater Skoronel hat sich das seit langem nur noch rudimentär und klitzeklein gedruckte „Tanz“ aus dem Logo gestrichen. Abschied vom Tanz? „Was man durch die frühere, bewegungsorientierte Arbeit behält, das ist der choreographische Anteil von Theater“, sagt Jörg Auffenanger. „Choreographisches Theater ist ein von Kresnik besetzter Begriff, aber es ist das, was wir machen wollen – allerdings als Schauspiel, und das sieht natürlich ganz anders aus. Es heißt, die Geschichte in den Raum zu setzen. Die Beziehungen der Figuren untereinander, die auch Spannungen im Raum sind, als solche sichtbar zu machen. Und das kommt vom Tanz, von der Körpersprache her.“

In den besten Momenten der Inszenierung gelingt genau das. Wenn die sprachliche Ebene zusammenbricht und sich Dagny gemeinsam mit ihren Müttern auf Stühlen durch den Raum schiebt; wenn sie den Vater herbeisingen will, während der schon mit der nächsten Geliebten durch den Raum tanzt und das Thema des Abends langsam Konturen bekommt: die inzestuösen Wünsche (nicht nur der Tochter).

„Anhaltspunkte gibt es mehr als einen, aber ich behaupte nicht, daß es zwischen Franz Jung und seiner Tochter Dagny tatsächlich einen Inzest gegeben hat. Man kann nur darüber spekulieren“, sagt Judith Kuckart. Und: „Es geht um keinen vollzogenen Inzest, sondern um eine inzestuöse Spannung, die mit der Distanz zum und der Sehnsucht nach dem anderen wächst.“ Das mag ein Schocker für Franz- Jung-Fans sein und eine Abrechnung mit einem verantwortungslosen, asozialen Vater, der zufällig Franz Jung heißt.

Überzeugend wird der Abend durch die eindringliche Behutsamkeit, mit der die zunehmenden Verwirrungen der Dagny Jung ob der Abwesenheit von Liebe auf die Bühne gebracht wurden. Und das ist zum nicht geringen Teil dem sensiblen Spiel Kirsten Hartungs zu verdanken.

Heiter dagegen soll es im „Else- Club“ zugehen. Else Lasker-Schüler, das Königskind aus Bohemeland, soll von einer Seite jenseits des Klischees der fragilen, Flöte spielenden Dichterin in Pluderhosen mit Dolch im Gürtel gezeigt werden. Anderthalb Stunden hat die Figur Lasker-Schüler Zeit, sich das zu erfüllen, was sie sich ihr ganzes Leben gewünscht hat: Intendantin eines Cabarets zu sein. „Es sind von uns zusammengestellte Texte von Else Lasker-Schüler, die eine eigene Geschichte ihres Lebens ergeben.“

Zum Schluß kommt „Homme fatal“, eine der besten Arbeiten von Skoronel. Und zwischendurch wird gelesen und gelesen und gelesen. Weil man die Werkstatt keinen Tag ungenutzt lassen wollte, wenn man sie schon zur Verfügung hat. Eine Tatsache, die dem Umstand zu verdanken ist, das Jörg Auffenanger manchmal Boulevardblätter studiert. Da stand, was keine andere Zeitung verraten wollte: Daß die Werkstatt während der Ferien frei sei.

Der Kultursenator, Herr Roloff-Momin, kann sich ebenfalls freuen. Zwar fällt es ihm erstaunlich schwer, das Schiller Theater angemessen lukrativ zu vermieten, aber zumindest die Werkstatt hat er zum Ende seiner Amtsperiode bei den Kindertheatern Grips und caroussel und jetzt auch noch in den Ferien gut unter Dach und Fach gebracht!

„Last Minute, Fräulein Dagny“ vom Theater Skoronel bis 23.7., 20.30 Uhr, Schiller-Werkstatt, Bismarckstraße 110, Charlottenburg. Das weitere Programm bis 7.8. erfragen unter Telefon: 8551448

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