: Der gute Despot
Er war Marxist und spielte Gitarre. Thomas Sankara war 33, als er sich 1983 an die Macht putschte. Sein Ziel für das verarmte Obervolta: „eine neue Gesellschaft“ aufbauen. Vier Jahre später wurde er getötet – beim Putsch seines Duzfreunds. Für viele Afrikaner ist Thomas Sankara heute noch ein Held. ■ Von Dominic Johnson
Am Morgen des 15. Oktober 1987 stürmen Soldaten den Präsidentenpalast. Die Verteidiger schießen zurück. Der blutige Kampf überzieht später ganz Ouagadougou, und an seinem Ende werden etwa 100 Tote gezählt – darunter Thomas Sankara, der Staatspräsident.
Ein klassischer Militärputsch also in einer entlegenen afrikanischen Despotie, Schauplatz diesmal: Burkina Faso?
Als sich vier Tage später Blaise Campaor als neuer Präsident per Radio präsentierte, waren ganz unklassische Töne zu hören. „Mein Waffenbruder“, beweinte er seinen getöteten Vorgänger, „mein Freund.“ Die Menschen glaubten ihm nicht. Tausende defilierten am improvisierten Grab, in dem Sankara von seinen Mördern eilig bestattet worden war.
Sankara war längst zum entrückten Helden geworden, und das nicht nur in seinem Land. Sankara – das ist für frustrierte Stadtjugendliche wie für idealistische Buschguerilleros in Westafrika noch heute: Mythos des besseren Lebens, ein Symbol des so dringlich erscheinenden Umsturzes der afrikanischen Verhältnisse.
Warum diese Verehrung? Erlangte doch der Berufssoldat am 4. August 1983 die Macht auf dem gleichen Wege, auf dem er sie verlor. Als Sankara die Regierungsgewalt übernahm, sagte er, sein Vorgänger vertrete „die Interessen der Feinde des Volkes“ – Standardspruch in einem Land der Coups: Vor seinem Putsch war Sankara ein paar Monate lang Premierminister des Militärherrschers Saye Zerbo, der selbst 1980 gegen einen per Putsch an die Macht gelangten Staatschef geputscht hatte.
Doch aufhorchen mußte die Welt spätestens zwei Tage später. Da nämlich lobte Libyens Staatschef Muammar el-Gaddafi Sankaras „Augustrevolution“ als „revolutionären Volksaufstand, der den Sturz eines Söldnerregimes erlaubte, welches in den Dienst westlicher Politik getreten war“. Und der begeisterte Gaddafi schickte gleich Flugzeuge voller Waffen. Dem neuen Präsidenten war das peinlich. Mit Sankara, so schien es dem westafrikanischen Establishment, war Obervolta in die Reihe „subversiver“ Staaten Afrikas eingerückt, die das traute Zusammenspiel französischer Militär- und Wirtschaftsmacht mit einheimischen Eliten zu brechen suchten.
Sankara war 33, als er Präsident wurde; er verkörperte Jugend. Sein Putsch war das Werk junger einfacher Soldaten, die ihm ergeben waren. Ob Sankara seine politische Bildung dem Aufenthalt an der Militärakademie in Madagaskar verdankt – wo er die „Revolution“ sozialistischer Militärs im Jahr 1972 miterlebte – oder auf der Pariser Rive Gauche erhielt? Beides wäre die Erklärung seiner marxistischen Phraseologie, die ihn innerhalb des voltaischen Militärs zum Wortführer der Linken machte.
Gleich nach seiner Machtergreifung beschlagnahmte er alle hohen Staatsfunktionären gehörenden Mercedes- und Chevrolet-Limousinen und übergab sie der staatlichen Lotterie. Er selbst fuhr einen Renault 5, trat immer in Tarnuniform auf und spielte zuweilen elektrische Gitarre.
Obervolta war zum Zeitpunkt seines Putsches eines der ärmsten und rückständigsten Länder der Welt. Die Provinz des ehemaligen Französisch-Westafrika war vermutlich nie als selbständiger Staat konzipiert worden: Als einziges Land ohne Zugang zum Meer und zum Niger-Fluß hängt es am Tropf der Eisenbahnlinie nach Süden, in die Hauptstadt der Elfenbeinküste.
In diesem Land Karriere zu machen hieß in den Staatsdienst eintreten oder Soldat werden. Die Bauern, 90 Prozent der Bevölkerung, lebten noch wie in der finstersten Kolonialzeit: mit Tributpflicht an ihre Chefs und Arbeitszwang für staatliche Projekte. Ihre Armut vergrößerte sich noch durch die großen Sahel-Dürren in den siebziger Jahren. In fruchtbarere Gebiete am Volta-Fluß weiterzuziehen wurde durch grassierende Seuchen wie Flußblindheit erschwert. 1983 hatte Obervolta die höchste Kindersterblichkeitsrate der Welt und 92 Prozent Analphabeten.
Sankara wollte all das ändern. „Die Augustrevolution versucht nicht, bloß noch ein weiteres Regime zu installieren!“ rief er in seiner Grundsatzrede vom 2. Oktober 1983. „Ihr Ziel ist die Schaffung einer neuen voltaischen Gesellschaft.“ Sankara träumte von der Mobilisierung des ganzen Landes zum gemeinsamen Einzug in die Moderne: „Ganz Obervolta wird eine riesige Baustelle werden!“
Zum ersten Jahrestag seiner Revolution verkündete der Bauherr, sein Land heiße nun nicht mehr Obervolta, sondern „Burkina Faso“. „Burkina“ ist ein Wort der im Land mehrheitlich gesprochenen Mossi-Sprache und heißt „Land aufrechter Menschen“. „Faso“ kommt aus der Sprache der Dioula und wird als „demokratisch-republikanisch“ übersetzt.
Sankara gründete „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR). Sie bildeten die Speerspitze des neuen Regimes, Kaderpartei und Miliz zugleich. In der für die Bauern wichtigsten Umwälzung wurden die traditionellen Dorfchefs entmachtet, Tributpflicht und Kopfsteuer abgeschafft und die Aufgabe der Steuer- und Gebühreneintreibung den CDR zugewiesen.
In der Trockenzeit Ende 1984 führten die CDR – nach amtlichen Angaben – innerhalb von 15 Tagen eine Impfkampagne für 2,5 Millionen Kinder durch, mit Hilfe kubanischer „Volontäre“. 1985 beauftragte die Regierung sie, im Laufe des Jahres zehn Millionen Bäume zu pflanzen; zugleich sollte die Eisenbahnlinie von der Elfenbeinküste in die Hauptstadt Ouagadougou weiter nach Norden bis nach Tambao verlängert werden. 1986 gab es eine „Alphabetisierungskampagne“, die 35.000 Leuten Lesen und Schreiben beigebracht haben soll. Der ständige Appell zum Kampf gegen Korruption und „sich gehen lassen“ – in seinen Reden geißelte Sankara genüßlich „unaufgeräumte Büroräume“ und „nachlässige Kleidung“ – und die ständigen Kampagnen gegen Schmutz und Seuchen führten einen französischen Beobachter zum maliziösen Vergleich mit Lee Iacocca, dem Manager der US-Autofirma Chrysler, der sein Unternehmen mit Radikalkürzungen und Predigten von „Opferbereitschaft“ vor dem Bankrott rettete.
Doch setzte Sankara selbst noch auf altes Denken. Unabhängige Medien waren verboten, Kritik an der Regierung in der staatlichen Tageszeitung Wahrheit wurde kaum zugelassen. Gegner der Regierung stellte man vor „Revolutionäre Volksgerichte“.
Fatal war Sankaras Enthusiasmus für eine militärisch strukturierte Gesellschaft, wenn es um die Regulierung der Wirtschaft ging: Er erhöhte die Zollgebühren drastisch und ließ alle Goldhändler vor Gericht stellen; der Handel mit Speiseöl wurde per Regierungsbeschluß auf vier Großhändler und acht Einzelhändler pro CDR-Bezirk beschränkt; zum Neujahrstag 1985 verkündete der Revolutionsführer die Abschaffung von Mieten, nachdem im Vorjahr eine Reihe großer Wohnungsbauprojekte in Ouagadougou begonnen worden waren; außerdem führte die Regierung eine 50-Prozent-Steuer auf alle Einkommen im Bausektor ein, der daraufhin prompt zusammenbrach.
Außer einigen wenigen Vorzeigeprojekten mit vier Zimmern, Küche, Bad und fließendem Wasser, deren monatliche Miete doppelt so hoch lag wie das durchschnittliche Monatsgehalt, entstanden kaum noch Wohnungen, während die Stadt voll halbfertiger Rohbauten stand.
Im Zuge all dieser Kampagnen stiegen die öffentlichen Ausgaben zwischen 1983 und 1986 um 120 Prozent – zugleich wurden regelmäßig die Gehälter der Staatsbediensteten gekürzt. Die städtischen Bürokraten litten unter Sankara in dem Maße, wie die Bauern von ihm profitierten. Sankara setzte allen Ministerialgehältern – auch seinem eigenen – eine Obergrenze von weniger als 2.000 Mark und vergab einen Fonds von 6 Millionen Mark, der für Gehaltszuschläge gedacht war, an landwirtschaftliche Projekte. Gerne sprach er in Reden von der „stinkenden, korrupten Administration“. Per Dekret wurden alle Staatsangestellten zweimal die Woche zu Langstreckenlauf und Aerobic- Übungen verpflichtet.
Weniger für das Land fatal als für ihn selbst war eine andere Gewohnheit Sankaras: Jeden August löste er die Regierung auf und schickte seine Minister in die Wüste – manchmal sogar wörtlich. Im August 1984 wurden 14 der 18 Kabinettsmitglieder zu Supervisoren im sozialen Wohnungsbau ernannt, im August 1985 befahl Sankara 19 der 22 vor einem Jahr neuernannten Minister, von nun an auf Staatsfarmen zu arbeiten.
Kein Wunder, daß immer weniger Politiker scharf auf einen hohen Posten unter Sankara waren – und warum sie ihn 1987 schließlich stürzten.
Blaise Compaor, der Putschist von 1987, war Sankaras bester Freund aus Jugendjahren und Inhaber hoher Regierungsposten. Sankara selbst hatte sich gerühmt, mit einem so verläßlichen Kumpan wie Compaor könne ja nichts schiefgehen.
Doch die beiden brachen nach den Wirtschaftsentscheidungen der Jahre 1985 und 1986 miteinander. „Für über ein Jahr hatte es einen latenten und dann offenen Konflikt zwischen zwei antagonistischen Fraktionen der Augustrevolution gegeben“, erklärte Compaor nach seiner Machtübernahme – und meinte damit Sankara und sich selbst.
Sankaras „sehr dominante Persönlichkeit, sein Charisma, sein Wunsch nach Berühmtheit und sein manipulatives Talent“ hätten ihn dazu geführt, „autokratische Macht“ zu beanspruchen; er habe ihn, Compaor, zum Schluß umbringen lassen wollen und sei ein „Verräter“, der Burkina ins Chaos führen wolle. Der Putsch sei daher eine „präventive Maßnahme“ gewesen, Sankara sei „aus Versehen“ ermordet worden.
Sankaras Tod rief in Burkina selbst und in vielen afrikanischen Ländern eine Bestürzung hervor, die es seit der Ermordung Patrice Lumumbas über zwanzig Jahre zuvor nicht mehr gegeben hatte. Ghana jedenfalls dekretierte Staatstrauer. Kongo, damals marxistisch-leninistische „Volksrepublik“, schäumte gegen Compaors „Landesverrat“. Selbst François Mitterrand äußerte seine „große Trauer“ über den Tod „dieses intelligenten jungen Mannes voller Ehrlichkeit und Elan“.
Mit Sankara starb das Ideal des guten Despoten in Afrika. Seit 1987 hat kein afrikanischer Staatschef mehr versucht, seine Diktatur durch den grandiosen Aufbau einer neuen Gesellschaft zu rechtfertigen. Der Wunsch nach Veränderung des Lebens hat sich seitdem mit der Idee der Demokratie verbündet, was Sankara noch fern lag.
Vielleicht hatte er Glück, daß er so früh gestürzt wurde. Viele langlebige Autokraten Afrikas könnten heute Volkshelden sein, wenn ihre Amtszeit nur vier Jahre gedauert hätte.
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