piwik no script img

Mitten im Krieg: Propheten des Friedens

Neue Forschungen über die „Propheten“ des südsudanesischen Nuer-Volkes lassen erstmals die Umrisse einer „Geschichte von unten“ erahnen, die die Kolonialisierung des Sudan Anfang des Jahrhunderts neu interpretiert.  ■ Von Dominic Johnson

„Als die Turuk [die britischen Soldaten] kamen, nahm Guek einen Ochsen und ging auf die Turuk zu. Die Turuk sagten, Guek werde sich mit ihnen versöhnen. Aber die Schwarzen, die mit den Turuk waren, sagten, Guek werde sie wie immer mit dem Ochsen töten. Guek versuchte, den Ochsen mit einem Speer zu treffen, aber der Ochse wandte sich ab... Die Turuk schossen und töteten ihn und den Ochsen auch. Als wir sahen, daß Guek tot war, flohen wir. Die Turuk töteten dreißig Leute aus Ngundengs Familie, zu der ich gehöre, und nahmen all unsere zurückgebliebenen Kühe und Kinder.“

So schildert Deng Bor Ngundeng, ein alter Mann aus dem südsudanesischen Nuer-Volk, dem britischen Ethnologen Douglas Johnson eine der letzten Schlachten gegen die britischen Kolonisatoren im Südsudan im Jahr 1929. Guek war Sohn des 1906 verstorbenen religiösen Nuer-Führers Ngundeng Bong, der noch heute von den Nuern als ihr erster Prophet verehrt wird. Nach seiner Erschießung kastrierten ihn die Briten und knüpften ihn an einem Feigenbaum auf. Die Nuer nahmen die Leiche herunter und begruben sie an einem Ort, den sie noch heute vor Fremden geheimhalten.

Deng Bor Ngundeng ist ein Enkel Ngundengs, und Douglas Johnson ist Autor eines neuen Buches, das ein Stück südsudanesische Geschichte aus der ansonsten schwer erfahrbaren Perspektive der Betroffenen rekonstruiert. „Nuer Prophets – A History of Prophecy from the Upper Nile in the Nineteenth and Twentieth Centuries“ (Clarendon Press, Oxford 1994) ist die erste ethnologische Studie über das Nuer-Volk seit den Untersuchungen von Evans-Pritchard aus den 30er Jahren.

Die Nuer waren das letzte Volk des Südsudan, das unter britische Herrschaft geriet. Begonnen hatte die britische Eroberung bereits am Ende des 19. Jahrhunderts. Als Schutzmacht des maroden Ägyptens sahen sich die Briten befugt, die Kontrolle über das gesamte Niltal zu übernehmen, eroberten die sudanesische Hauptstadt Khartum 1898 und erklärten per Vertrag mit Ägypten den gesamten Sudan zur Kolonie beider Länder, inklusive der „wiederzuerobernden“ Gebiete „südlich des 22. Breitengrades“. Das britische Interesse an den südlichen Weiten aus unpassierbaren Nilsümpfen und endlosem Busch, in denen nur vereinzelt Nomadenstämme lebten, verdeutlichte der Londoner Botschafter in Kairo, Lord Cromer, 1903 so: „Beide Ufer des Nils, vom Albertsee (in Uganda) bis ans Mittelmeer, sollten in britischer oder anglo-ägyptischer Hand sein.“

Im Süden ließen sich die neuen Eroberer in den verlassenen Kasernen der arabischen Sklavenhändler aus dem 19. Jahrhundert nieder. Sie unternahmen von dort regelmäßige Raubzüge gegen die einheimischen Völker zwecks Tributeintreibung und wunderten sich über die, wie 1898 ein englischer Major fand, „äußerst hinterlistigen und primitiven und keineswegs freundlichen“ Menschen, die nackt im Busch lebten, dem Wechsel von Trocken- und Regenzeit folgten und keine politischen Institutionen kannten. Aus Sicht der Nuer, Dinka, Azande und der anderen Völker des Südsudan benahmen sich die Briten nicht anders als alle andere fremden Herren vorher, weshalb sie sie „Turuk“ – Türken – nannten.

Im Laufe der Jahrzehnte machten sich die Briten an die Unterwerfung des Südsudan. Nach ihrem endgültigen Sieg über die Nuer 1929 verfolgten sie eine Politik der ethnischen Aufteilung und Neuordnung. Die verwandtschaftlich stark vermischten Nuer und Dinka wurden per Deportation voneinander getrennt und in verschiedenen Provinzen angesiedelt. Bereits 1922 waren die weiter westlich lebenden Azande an die Straßen umgesiedelt worden.

Die britischen Verwalter, wegen ihrer sehr langen Amtszeiten „bog barons“ (Sumpfbarone) genannt, sahen es, wie ein amtliches Dokument 1930 verfügte, als ihre Aufgabe, „den Aufbau einer Reihe rassischer oder tribaler Einheiten, gegründet auf einheimischen Gebräuchen“, durchzusetzen. Die Nomadenstämme wurden gezählt und „Häuptlinge“ ernannt. In zeitgenössischen Schilderungen erscheint der Südsudan als eine Art Zoo mit wilden Tieren und wilden Menschen, als unnütze, aber pittoreske Spielwiese für abenteuerlustige Administratoren.

Im Rahmen dieser Politik, die durch die Verweigerung jeglicher Selbstbestimmung den Grundstock für den späteren Bürgerkrieg legte, besuchte als erster britischer Forscher der Ethnologe Edward Evans-Pritchard in den 30er Jahren die Nuer. In drei Büchern lieferte er eine bis heute beispielhafte Beschreibung der Lebensumstände dieses Volk. Aus seinem mehrjährigen Aufenthalt entwickelte sich ein Engagement, das ihn zuweilen in Konflikt mit arroganten Kolonialverwaltern brachte, aber den Nuern einen bleibenden Platz im Kanon englischer Ethnologie gesichert hat. Evans-Pritchard erlebte die sogenannten „Propheten“, auch „Erdmeister“ genannt, als respektierte, aber relativ machtlose Älteste und gab ihnen den Titel „Häuptlinge des Leopardenfells“; die Rolle der Propheten als Widerstandsführer gehörte für ihn der Vergangenheit an.

Johnsons neue Studie, Ergebnis zwanzigjähriger Detailarbeit und Feldforschung, gibt ein vom unmittelbaren Eindruck der militärischen Niederlage geprägtes Bild. Er zeigt, daß die Propheten weder einfache Älteste noch Rebellenchefs sind, sondern Träger einer noch heute lebendigen kulturellen Tradition. Die Propheten sind Sonderlinge in der Nuer-Gesellschaft, „besessene“ Träger göttlicher Energien, die in der Nuer-Religion immer an bestimmte Menschen oder Gegenstände geknüpft sind. Ihre Aktivität, so Johnson, besteht in der Übertragung dieser Energien auf ihr Volk: „Durch ihre Segnungen und Gebete versuchten sie, Kranke zu heilen, Fruchtbarkeit von Frauen und Kühen sowie Getreideüberfluß zu sichern. Als Lebensspender konnten sie auch Leben nehmen; ihr Fluch galt als Träger des Todes, und ihre Opfer im Krieg konnten ihre Feinde zerstören“.

Gueks verfehlter Versuch, vor den britischen Soldaten 1929 einen Ochsen zu opfern, wurde von den Nuern als Zeichen der Niederlage gewertet. Innerhalb ihres Volkes spielten die Propheten jedoch eine friedensstiftende Rolle und wurden somit zu Konkurrenten jeder auswärtigen Regierung. „Der Zusammenstoß zwischen Regierungen und Propheten“, so Johnson, „war zum Teil ein Konflikt darüber, wer das Recht zur Friedensschaffung hat.“

Aus dieser Sicht gewinnt die wechselhafte Geschichte des Südsudan eine aufschlußreiche Kontinuität. Die Briten begründeten ihre Herrschaft mit der Notwendigkeit, Ruhe und Ordnung zu schaffen und Stammesfehden zu beenden. Der Bürgerkrieg im Süden brach 1955 aus – mit einer Revolte südsudanesischer Soldaten gegen die Entsendung nordsudanesischer Einheiten in den Süden im Rahmen der „Sudanisierung“ des kolonialen Staates – zu einem Zeitpunkt, als die sudanesische Politik andere Prioritäten hatte, nämlich die Vorbereitung der Unabhängigkeit zum 1. Januar 1956. Die immer vom Norden dominierten Regierungen des unabhängigen Sudan, insbesondere die gegenwärtige Militärjunta, begründen seither ihren andauernden Krieg im Südsudan mit der Notwendigkeit, das Problem des 1955/56 übersehenen Südsudan zu lösen und die angeblich von Rebellen terrorisierte Bevölkerung in den sudanesischen Staat hineinzuführen. Element der heutigen Kriegsführung des Militärs ist die medienwirksame Verschickung von „Friedenskonvois“ mit Hilfsgütern in eroberte Gebiete. Beide Regime stellen sich weniger als Eroberer denn als Friedensschaffer dar – was angesichts ihrer brutalen Kriegsführung nicht nur ein bodenloser Zynismus ist, sondern auch nicht funktioniert und eher zum Revival der Propheten beiträgt.

Zu Ngundengs Lebzeiten hatte der Lou-Stamm des Nuer-Volkes eine zwanzig Meter hohe Lehmpyramide gebaut, die als sprituelles Zentrum des Propheten diente. Die Briten zerstörten zur Krönung ihres Sieges das Monument mit Luftangriffen und Sprengstoff, Ngundengs persönliches Eigentum wurde beschlagnahmt. Nach dem Ende des ersten südsudanesischen Bürgerkrieges 1972 wurde der Umgang mit Ngundengs Erbe zu einem zentralen politischen Thema. Als bei der großen Zeremonie zur Rückgabe einiger Reliquien am 26. Dezember 1979 Tausende feiernder Nuer neben den Resten der Pyramide die von Ngundeng überlieferten Lieder sangen, galt dies als wichtiges politisches Signal. Zwei Jahre später verlangte ein neuer Lou-Prophet namens Kuaijien von den Behörden Wiedergutmachung für die Ermordung von Guek 1929 – daß daraus nichts wurde, trug mit zum Wiederausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 1983 bei.

Heute sind Nuer-Propheten wieder mit Schlichtung beschäftigt. So führte die Spaltung der südsudanesischen Guerillabewegung SPLA im Jahre 1990 – als sich der wichtigste Nuer-Kommandant Riek Machar von der SPLA-Führung um den Dinka John Garang trennte – zu intensiven Vermittlungsbemühungen durch den Nuer-Propheten Wut Nyiang. Diese haben möglicherweise zur Versöhnung der beiden Chefs in diesem Jahr beigetragen. Neben dieser Vermittlungsfunktion übernehmen andere Propheten die Rolle von Richtern oder koordinieren die Verteilung von Hilfsgütern.

Alle Propheten sehen sich in der Tradition Ngundengs, dessen Lieder noch heute Allgemeingut der Nuer sind und immerfort als Vorhersagen des gegenwärtigen Elends interpretiert werden. Die Rückbesinnung auf Ngundeng scheint sich laut Johnson in den Kriegsjahren sogar verstärkt zu haben. Diese Herausbildung einer eigenen historischen Erinnerung – die sowohl Regierung wie Guerilla umgeht – könnte zur Befriedung des Südsudan beitragen. Auf militärischem Wege, das haben die letzten vierzig Jahre gezeigt, ist der Konflikt jedenfalls nicht zu lösen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen