: Dann ist das Spiel vorbei
Sturmtruppen der Reaktion in Moskau? Die düsteren Visionen des Medienzaren Wladimir Gusinsky, der kürzlich von der Präsidentengarde bedroht wurde ■ Von Irena Marynika
Wladimir Gusinsky, Ziel der unterschiedlichsten Angriffe, Prototyp eines Tycoons, Arbeitstier und Plutokrat extraordinaire, erweist sich, adrett im grauen Anzug, als manierlicher Mann mit Brille, der schnell spricht und leicht errötet. Lederjacke und dunkle Brille, früher sein beredtes Markenzeichen, sind verschwunden – und kein einziger Leibwächter ist in Sicht. Ein Chamäleon vielleicht? Vier Monate selbstauferlegtes Exil, nachdem ihm Boris Jelzins Sicherheitskräfte übel mitgespielt hatten, und die Tarnung ist komplett. Sein Londoner Büro auf der vierten Etage des City Tower liegt diskret am Ende eines langen, düsteren Korridors mit alptraumartig ungekennzeichneten Türen. Dies also ist der Mann, der als einer der energischsten Medienbarone Rußlands gilt: Er ist Gründer und Leiter der Most-Gruppe (42 Betriebe, darunter eine Bank und 10 Immobilienfirmen), Eigentümer von Rußlands erstem privaten Fernsehsender NTV und der liberalen Tageszeitung Segodnya und interessiert am Kauf des populären Radiosenders Ekho Moskwy. Zur Zeit verhandelt er mit der Bank von England über eine Zweigfirma in London. Sein persönliches Nettovermögen wird auf 50 Millionen US- Dollar geschätzt, aber sein Betriebskapital geht in die Milliarden: unter anderem laufen Moskaus Stadtfinanzen über ihn. Ein kometenhafter Aufstieg für einen ehemaligen Studenten der Theaterwissenschaft – wie schaffte er das? „Wenn eine politische Struktur zerbricht und eine andere an ihre Stelle tritt“, sagt Gusinsky, „ergeben sich riesige Leerstellen. Wer ihre Umrisse erahnt und sich und andere organisiert, um diesen Raum zu besetzen, kann Großes erreichen. Aus sozialen Erschütterungen kann gewaltiger Reichtum entstehen. Unser Land bietet hohe Profite; in einer stabilen Gesellschaft mit niedrigerem Risikoniveau sind die Gewinne kleiner. Dafür können wir in einer Minute alles verlieren.“
Gusinskys Hintergrund ist erstaunlich kompliziert für einen Bankier, der sich auf der ökonomischen Grenzlinie zwischen Ost und West bewegt. Die Eltern stammen von beiden Seiten der revolutionären Scheidelinie: die Mutter aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie mit Erfahrungen im Arbeitslager; der Vater ein ukrainisch-jüdischer Fabrikarbeiter.
Gusinskys Kindheit war durchzogen von regelmäßigen Ausbrüchen des Antisemitismus – das gab ihm Kraft, meint er. Wie bewertet er seine Herkunft jetzt, in einem Land mit derzeit über hundert extrem rechten und faschistischen Publikationen (in denen „die Juden“ beschuldigt werden, sie hätten sich verschworen, Rußland in ihre Hände zu bekommen; in anderen wird behauptet, Juden töteten regelmäßig junge Russen und tränken ihr Blut)? „Ich möchte meine Nationalität nicht tauschen. Es gibt in Rußland extreme faschistische Organisationen, deren Publikationen nicht im geringsten behindert werden, obwohl es durchaus rechtliche Möglichkeiten gäbe. Die Behörden beschränken sich auf fromme Erklärungen oder demonstrative Gesten, die zeigen sollen, daß der Faschismus uns alle bedroht. Das zielt auf den Westen, um despotische Aktionen zu rechtfertigen, die weder von sozialer noch von politischer Notwendigkeit diktiert sind.“
Gusinsky wurde selbst zum Opfer willkürlicher Maßnahmen. Im letzten Dezember wurde er von einer Gruppe maskierter und mit Gewehren bewaffneter Kerle bis in sein Büro verfolgt; anschließend durchsuchten sie das Hauptquartier der Most-Bank und zwangen Gusinskys Wachpersonal, mehrere Stunden im Schnee zu liegen. Die Angreifer waren Sicherheitskräfte des Präsidenten. Gusinsky verließ das Land. Gegen die Sicherheitskräfte des Präsidenten wurde ein Strafverfahren eingeleitet und kürzlich eingestellt. Wären sie schuldig gesprochen worden, hätten sie mit Strafen bis zu zehn Jahren Gefängnis rechnen müssen.
Warum Gusinsky zum Ziel dieses Angriffs wurde, ist eine strittige und heikle Frage. Er sieht den Grund in seiner Weigerung, sich an einem Finanzgeschäft – über das er sich nicht weiter auslassen möchte – zu beteiligen und in seinem Mediensektor die Politik der Regierung zu unterstützen. „Ich wollte nicht der Hofbankier der gegenwärtigen Machthaber werden. Es gibt Geld, das ich verdienen will, und es gibt Geld, das stinkt. Ich sagte, ich wollte mein Geld weiterhin auf meine Weise verdienen. Ich möchte das Gefühl haben, daß Rußland ein Land ist, in dem die Präsidentengarde etwas gegen mich hat oder auch nicht, in dem ich aber keine Angst haben muß, wenn ich die Post öffne oder über die Straße gehe. Man hatte mir nahegelegt, unsere Medien sollten manche Dinge ignorieren und gegen andere zu Felde ziehen: mit anderen Worten, die offizielle Ideologie vertreten.“ Aber in Moskau kursieren Gerüchte, kurz vor dem Dezember-Angriff hätten sich die Konkurrenten der Most-Bank in General Korschakows Büro die Klinke in die Hand gegeben, um energische Schritte gegen ihren Rivalen zu fordern. Moskaus Bürgermeister Luschkow läßt die Finanzen der Stadt über Gusinskys Bank laufen. Er kontrolliert einen großen Teil der städtischen Wählerstimmen: Wollte Jelzin Luschkows Stellung untergraben, schösse er sich selbst in die Füße.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen Ende des Jahres und angesichts der zunehmenden Beliebtheit von Gusinskys Fernsehsender NTV sieht das Jelzin-Lager anscheinend sein Monopol im Äther bedroht. 99 Prozent der russischen Haushalte besitzen Fernseher. Außerhalb Moskaus ist Fernsehen die einzige Unterhaltung für Menschen, die zu drei Generationen zusammenleben. Wenn die Regierung versuchen sollte, gegen NTV vorzugehen, würde das im Westen peinliche Proteste auslösen. Im Dezember brachte NTV quälende Kriegsbilder aus Tschetschenien, die an den Vietnamkrieg erinnerten. Segodnya prügelt fast täglich auf die Regierung ein.
Am 1. April ging Rußlands vormals staatlicher Fernsehsender als Russian Public Television auf Sendung, nun finanziert von einem Autohändler, einem Elektronikgroßhändler und sechs Banken – alle eng mit dem Kreml verbunden, alle verläßlich loyal. Der Kanal soll zum neuen Sprachrohr des Präsidenten werden und im Vorfeld der Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres und der Präsidentenwahl im Juli 1996 den Standpunkt des Kreml vertreten. Mit einer Finanzspritze seiner neuen Wohltäter von 97 Millionen US-Dollar werden die Bankiers zu Schlüsselfiguren im Kampf um Herzen und Köpfe der Wähler. Eine starke Lobby in der Geschäftswelt möchte um der ökonomischen Stabilität willen beide Wahlgänge verschieben. Eine neue patriotische Bourgeoisie tritt als Verteidiger russischer Interessen auf. Die russische Regierung erhielt von einer Gruppe von Banken, von denen zumindest eine über enge Verbindungen zu der neuen Pro-Jelzin-Gruppe im Parlament verfügt, das Angebot eines Kredits über 1,65 Milliarden US- Dollar – im Austausch gegen die staatlichen Anteile an einigen der begehrtesten Industrien des Landes, um sie vor ausländischer Übernahme zu schützen. Das galt als „Geschäft des Jahrhunderts“, aber die Most blieb anscheinend ausgeschlossen.
Politik und Bankwesen sind in Rußland heutzutage mit hohen Risiken verbunden. Angesichts der sich ständig vertiefenden Kluft zwischen Rußlands neuen Reichen und neuen Armen und angesichts einer Zunahme der Auftragsmorde um das Fünffache seit 1992 sind inzwischen siebzig Prozent der Russen überzeugt, Gesetz und Ordnung müßten unter allen Umständen und mit allen Mitteln wiederhergestellt werden. Im Mai verabschiedete die Duma in erster Lesung ein Gesetz, das den Bundessicherheitsdienst FSB, ein Nachkömmling des ehemaligen KGB, zum Abhören von Telefongesprächen, zur Überwachung von Computernetzen und zur Anlage von Akten über russische Bürger ermächtigen soll. Im Gespräch ist auch eine Erhöhung des Sicherheitsetats. „Irgend etwas muß passieren“, sagt Gusinsky. „Sie müssen zeigen, wie schlecht die Verhältnisse sind, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Vermutlich wird die ,Mafia‘ einen bekannten westlichen Geschäftsmann umbringen oder entführen. Die Leute versuchen, sich zu schützen, potentielle Rivalen aus dem Feld zu schlagen oder eine Situation zu schaffen, in der Wahlen unmöglich sind. Und der Westen mit seiner Heidenangst vor der russischen Mafia, vor Terroristen und Faschisten, wird seine Augen vor allem verschließen. Bringt euer Haus in Ordnung, werden sie sagen. Grundrechte kommen dann erst an zweiter Stelle. Das ist der amerikanische Weg, und man kann es ihnen nicht übelnehmen. Die amerikanischen Interessen stehen an erster Stelle. Wenn die bei Diktatoren besser aufgehoben sind, dann werden von Amerika eben die unterstützt. So ist das Leben.“
16.000 zusätzliche Truppen der Armee und des Innenministeriums überfluten angeblich im Gefolge der Geiselkrise von Budjonnowsk die russische Hauptstadt – Gusinskys Ängste könnten sich als durchaus gerechtfertigt erweisen. Die angeblich gegen den Terrorismus gerichteten Maßnahmen brachten Schützenpanzer auf alle Ein- und Ausfallstraßen der Hauptstadt. Ein Sicherheitsalarm könnte den Anlaß für Maßnahmen bieten, mit denen die Unangreifbarkeit der herrschenden Elite gesichert werden könnte. In einem Klima fieberhafter Aktivität bleibt niemand von Angst verschont – das gilt besonders für jene, die am meisten zu verlieren haben. Und dies vor allem verbindet die neuen Plutokraten mit Rußlands politischem Establishment. „Jeder russische Führer weiß: Kommt ein neuer Führer an die Macht, könnten repressive Maßnahmen gegen ihn, seine Familie und seine Anhänger eingeleitet werden. Das sind die Spuren der Kriegsmentalität, die uns die Bolschewiken eingeimpft haben. Das berührt uns alle.“ Während Gerüchte umgehen, Jelzin konsultiere Orakel und Horoskope, und während die Politiker miteinander im Streit liegen, können kaum Zweifel aufkommen, wo die Macht in Rußland wirklich liegt. Und es ist verständlich, daß die Bankiers das behagliche Gleichgewicht nur ungern durch Wahlen stören lassen möchten. „Die Politiker haben verstanden, daß sie die Interessen der Finanzgruppen zum Ausdruck bringen müssen und nicht umgekehrt“, bemerkt Gusinsky. Unbedingt müßten Wahlen stattfinden. „Wenn man Menschen ihres Rechts auf die Wahl der Regierung beraubt, verurteilt man sie zu viel größeren Problemen. Wenn faire Wahlen stattfinden, wenn einige Fernsehsender unabhängig bleiben, dann wird auch NTV seinen Beitrag leisten. Vorausgesetzt, die Show geht weiter, die Schauspieler sind anwesend, die Beleuchtung funktioniert und im Publikum hat niemand eine Machinenpistole dabei – dann können wir unsere Rolle spielen. Es gibt heutzutage in Rußland keine Teilung von legislativer und exekutiver Gewalt. Alles konzentriert sich in einer Tasche: bei den zentralen Behörden. Die Macht liegt nicht in ihrer Durchsetzung, sondern im Potential ihrer Ausübung. Es ist die Unvermeidlichkeit der Bestrafung, nicht die Strafe selbst, die die Dynamik der Gesellschaft kontrolliert. Wir versuchen, eine Gewaltenteilung herbeizuführen. Aber das Bild einer neuen kriminellen Machtbasis beginnt sich in seinen Umrissen abzuzeichnen. Es erhebt sich wie der Geist in Hamlet. Sobald es Gestalt angenommen hat, kann man Shakespeare vergessen. Dann ist das Spiel vorbei.“
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