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Mehr Volksabstimmungen, weniger Immunität

■ Gestern stimmten die französischen Parlamentarier über die größte Verfassungsänderung seit 1958 ab / Präsident Chirac löst Wahlversprechen ein

Paris (taz) – „Eine Revolution im politischen Alltag“, nennt der Verfassungrechtler Didier Maus das Reformprojekt, das gestern nachmittag im Schloß von Versailles zur Abstimmung stand. 887 gewählte Abgeordnete – die Mitglieder der beiden Kammern – traten zusammen, um gleich mehrere Artikel der Verfassung der V. Republik zu ändern. Wichtigste Änderungen: mehr Referenden, eine einzige und lange parlamentarische Sitzungsperiode und eine stark eingeschränkte Immunität der Parlamentarier.

Volksabstimmungen, die bislung nur zu Fragen der staatstragenden Institutionen und zu Frankreichs internationalen Verträgen möglich waren, können nach der Reform auch über Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie über den öffentlichen Dienst abgehalten werden. Der Staatspräsident darf sie einberufen und muß vorher nur das Parlament über das jeweilige Thema debattieren – nicht jedoch abstimmen – lassen.

Die parlamentarische Sitzungsperiode, die bislang aus zweimal drei Monaten plus außerordentlichen Sitzungen bestand, wird auf durchgehend neun Monate mit maximal 120 Sitzungstagen verlängert. Parlamentspräsident Philippe Séguin, ein wichtiger Unterstützer von Jacques Chirac, hat diese Reform seit langem verlangt, um die Arbeitsfähigkeit seines Gremiums zu vergrößern.

Die Immunität der Parlamentarier, die bislang nur per Mehrheitsbeschluß aufgehoben werden konnte – seit 1958 nur acht Mal – darf künftig vom Büro der Nationalversammlung aufgehoben werden.

Präsident Chirac hatte die Reform – die größte seit dem Beginn der V. Republik, 1958 – in seinem Wahlkampf versprochen, um die verkrusteten Institutionen zu reformieren und die Korruptionsverfahren zu beschleunigen. Weil er schon in diesem Herbst ein erstes Referendum über das Erziehungswesen abhalten will, war Eile geboten. Entgegen ihrer Gewohnheit mußten die Parlamentarier noch bis gestern, dem allerletzten möglichen Arbeitstag vor der Sommerpause, in Paris bleiben, um der Sitzung des Kongresses beizuwohnen. Die Verfassungsänderungen müssen mit einer Dreifünftelmehrheit verabschiedet werden.

In getrennten Sitzungen hatten zuvor bereits Nationalversammlung und Senat dem Projekt zugestimmt. Zwar äußerten auch Mitglieder der absoluten konservativen Mehrheiten in beiden Kammern Kritik an dem Chirac-Projekt, beugten sich aber letztlich der Parteidisziplin. Widerstand – vor allem gegen die Einschränkung der Immunität – kam nur von der kommunistischen und sozialistischen Opposition.

Sozialist Michel Charasse nannte sie einen „Angriff auf die Gewaltenteilung“, und sein Parteigenosse Guy Allouche sprach von einem „Deichbruch“ mit allen daraus resultierenden künftigen „Überschwemmungsmöglichkeiten“. Dorothea Hahn

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