: Camille sein Miljöh
■ Neu im Kino: Claire Denis' „Ich kann nicht schlafen“: ein Killerdrama ohne Kinoblut
Der Fall Paulin ist authentisch. Ende der 80er Jahre hielt ein Serienkiller Paris in Atem. Thierry Paulin hatte sich zusammen mit einem Komplizen auf ältere Damen spezialisiert. Schwarz, homosexuell, drogenabhängig, AIDS-krank: Der Mann genoß wenig Sympathien in Frankreich. Paulin starb an seiner Krankheit, noch bevor ihm der Prozeß gemacht werden konnte. Aus so einem Schicksal werden gemeinhin Thriller-Stoffe gestrickt: mehr oder weniger blutig, moralisierend und spannend. Die Französin Claire Denis nähert sich dem Thema über drei Ecken. Was sie interessiert: Wie lebt so einer, was für Leute kennt er, in welchen Ecken der Stadt bewegt er sich?
Kein spektakulärer Mord als „teaser“ noch vor dem Vorspann, keine unheilverkündenden Klänge, sondern locker verwobene Milieustudien präsentiert Claire Denis. So locker, daß ihr die Geschichte des Mörders ab und an aus den Händen gleitet.
Hoch über der dunstigen Stadt fängt es an. Zwei Flics verpissen sich in einem Polizeihubschrauber – warum, wissen wir nicht. Dann kommt Daiga (Katerina Golubeva) in die Stadt, ein Wunder, daß ihr klappriges Fahrzeug den Weg aus Litauen geschafft hat. Daiga spricht kein Wort Französisch, ihr Kapital trägt sie unterm Pullover versteckt, internationale Währung: Kaviardosen.
Zweite Ebene: Camille (Richard Courcet), der farbige Transvestit und Serienkiller, und sein weißer Liebhaber und Komplize Raphaäl (Vincent Dupont). Dritte Geschichte: Camilles großer Bruder Théo (Alex Descas), der mit Mona (Beatrice Dalle) und ihrem kleinen Sohn in einem tristen Appartement wohnt und nur davon träumt, nach Martinique zurückzukehren.
Camille treibt nur so vor sich hin. Ziele im Leben hat er nicht, kaum Perspektiven. Sein Zimmer in einem mühsam auf Niveau gehaltenen Hotel dient nur als Liebesnest. Camille schläft nie, ist bloß ständig müde. Ob es darum geht, einer alten Frau den Gürtel um den Hals zu ziehen oder in der Homo-Bar aufzutreten: Mit den Gedanken scheint Camille immer woanders. Die Regisseurin weiß auch nicht wo. Ebenso Daiga, die im selben Hotel als Zimmermädchen arbeitet: lustlos, fremd, spröde. Und wie Théo, der sich am liebsten auf dem Dach seines Hochhauses aufhält und gar nicht merkt, wohin sein Bruder treibt. Alle wollen weg, wenigstens im Geiste.
Die Mörder sind sich ihrer Taten kaum bewußt. Und kümmern sich auch nicht darum, wer sie beobachtet haben könnte. Keine Masken, keine Eile. Nachdem eines ihrer Opfer überlebt hat, läßt sich ein Phantombild anfertigen. Daiga kann zwar kein Französisch, hat aber Augen im Kopf. Camille und Raphaäl trifft sie doch jeden Tag, auch ohne mit ihnen ein Wort zu wechseln.
Daß „Ich kann nicht schlafen“ („J'ai pas sommeil“) in Paris angesiedelt ist, ist der Regisseurin nicht wichtig; die Story könnte in jeder westlichen Metropole spielen, sagt sie. Trotzdem verströmt jedes Bild, jede Kamerafahrt in Claire Denis' Film so viel Atmospäre, wie das die meisten Hochglanz-Produkte aus dem bedeutendsten Filmland Europas vermissen lassen.
Das Gespür fürs Milieu ist die Stärke der Regisseurin, sie selbst kommt vom Dokumentarfilm her. Aus der Fülle der überzeugend gezeichneten Figuren fällt nun ausgerechnet diejenige heraus, auf die man dramaturgisch hingeleitet wird: Daiga bleibt blaß, steht herum und muß ihr schönes Gesicht, von Melancholie verschattet, in die Kamera halten. Camille, als ständig im Tagtraum Befangener, wird glaubwürdig von einem Laienschauspieler dargestellt: Lakonisch sagt er während seines Verhörs „ja“ zu allen Daten, Namen, Adressen, die er auf dem Gewissen hat. Dagegen wirkt Daiga, als habe sie sich im Film geirrt. Allerdings profitiert sie von allen am meisten: Ohne Probleme durchsucht sie das Hotelzimmer Camilles, findet die Beute aus einem Dutzend Überfällen und verschwindet. Alexander Musik
Cinema, täglich 21 Uhr
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