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Der Wahnsinn hat viele Namen

■ Brandenburg hält einen traurigen Rekord: Gemessen an der Einwohnerzahl sterben auf den Straßen des Nachbarlandes die meisten Menschen / In diesem Jahr bereits 267 Verkehrstote

Der Wahnsinn auf Brandenburgs Straßen hat viele Namen: Trunkenheit am Steuer, Aggression und Raserei. Das Land mit den schönen Alleen verzeichnet einen traurigen Bundesrekord: Hier starben 1994, gemessen an der Einwohnerzahl, die meisten Menschen. Auch in diesem Jahr sieht es nicht besser aus: Von Januar bis Mai kamen 267 Menschen bei über 39.400 Unfällen um, knapp 8.000 wurden zum Teil schwer verletzt. Allein am letzten Juli-Wochenende kehrten zwölf Menschen von einer Autofahrt nicht zurück. Opfer rücksichtsloser Überholmanöver und ignorierter Vorfahrten sind oftmals Unschuldige. Jeder zweite Tote sei ein „Geschwindigkeitsopfer“, beklagt Verkehrsexperte Jürgen Luther aus dem Innenministerium.

Kaum Gegenstrategien

Erklärungen für dieses Phänomen gibt es viele, nur offenbar keine wirksamen Gegenstrategien. Die Unfallzahlen steigen weiter. Wurden 1991 in Brandenburg noch 60.000 Unfälle vermeldet, krachte es im Vorjahr bereits knapp 96.000 Mal. Annegret Mahn vom Verkehrspsychologischen Institut Berlin-Brandenburg: „In den alten Ländern wird zivilisierter gefahren. Im Osten ist aber fünf Jahre nach der Einheit keine Abkehr vom Negativ-Trend in Sicht“, sagt die Expertin. „Das Freiheitsgefühl auf der Straße nach dem Fall der Mauer hält an.“ Die Fahrer reagierten häufig sozialen Druck am Gaspedal ab. Stärker als im Westen werde die Blechkarosse als Statussymbol empfunden.

Nach Einschätzung der Fachfrau werden mehr und mehr „extrem potente Autos“ gefahren, während der schlechte Zustand vieler Straßen immer mehr Autos nicht vertrage. Baustellen, wohin man sieht, Staus – auch das nerve Fahrer und verleite, verlorene Minuten durch Rasen wettzumachen. Indes steige die Motorisierung weiter. Besonders junge Männer würden zunehmend rücksichtslos und riskant hinter dem Steuer „residieren“. Mahn: „Frauen fahren bei weitem nicht so aggressiv.“ Auf Crash-Kurs sind auch immer mehr Fahrer ohne Führerschein. Frei nach dem Motto: Ich habe einfach das Recht zu fahren – ohne Rücksicht auf Verluste. „Die haben das Auto irgendwie gekauft und sparen jetzt an Führerschein und Versicherung“, berichtet Mahn.

Auch eine brandenburgische Besonderheit treibt die Negativ- Statistik hoch: die „Baumunfälle“. Fast jedes Wochenende vermeldet die Polizei Frontalzusammenstöße mit einem der Alleebäume, die Brandenburgs Straßen auf über 12.000 Kilometer Länge säumen. „Die Straßen wurden konzipiert, als Fontane mit dem Kremser durch die Gegend fuhr. Das ist nichts für Hochleistungsautos“, sagt Verkehrsexperte Luther.

Mehr Kontrollen

Der Ruf nach verstärkten Kontrollen wird immer lauter. Appelle an die Vernunft bringen offensichtlich keinen Verkehrsrowdy zur Räson. „Bei manchen funktioniert das nur übers Portemonnaie“, meint Luther. Er plädiert besonders für stärkere Alkoholtests. Trunkenheit am Steuer ist in Brandenburg nach zu schnellem Fahren Unfallursache Nummer 2. Fachleute konstatierten, daß ostdeutsche Fahrer nach dem strikten Fahrverbot in der DDR bei Alkohol die neuen Regelungen zu großzügig für sich auslegten.

Die Kritik, rüpelhafte Raser könnten sich in Brandenburg relativ sicher fühlen, weist das Ministerium zurück. Kontrollen seien stetig verstärkt worden. Bis zum Jahresende soll die Polizei überall mit moderner Laser-Technik für Geschwindigkeitsüberwachung ausgestattet sein. Jutta Schütz, dpa

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