: Der westliche Zeigefinger
Kinderarbeit bleibt vorerst unvermeidlich, glauben Hilfsorganisationen inzwischen. Die Ursachen liegen in den westlichen Märkten. ■ Von Rudolf Langer
Die Nachricht ging um die Welt. Im Musterland internationaler Währungshüter, Thailand, hatte die Polizei 31 mißhandelte, fast gehunfähige Kinder und Jugendliche aus einer Bangkoker Fabrik befreit. Sie mußten von fünf Uhr morgens bis elf Uhr nachts in Handarbeit Pappbecher fertigen. Angesichts solcher Exzesse ist die Empörung im Westen groß, die Forderung nach Abschaffung von Kinderarbeit in aller Munde.
Dessenungeachtet nimmt Kinderarbeit immer schneller zu. Das klingt schockierend, und dennoch ist es oftmals gerade Arbeit, die Kindern ein Stück aus Elend und Kriminalität heraushilft beziehungsweise ihr Überleben sichert. Wer Kinder in der Dritten Welt schützen will, läuft daher Gefahr, daß er sie von ihren Arbeitsplätzen vertreibt und sie durch solche „Hilfe“ vom Regen in die Traufe schickt. Wer zum Beispiel brasilianische Kinder am Ernten von Orangen hindert, sorgt unter Umständen nur dafür, daß sie vielleicht in Erzminen arbeiten oder sich prostituieren müssen.
Kinderarbeit könne man nicht pauschal verurteilen – zu diesem Schluß kam auch Terre-des- hommes-Sprecher Wolf-Christian Ramm im Frühling 1994. Wenn manche nicht arbeiten, „dann müssen sie verhungern“. So manche Politiker in Entwicklungsländern vermuten übrigens hinter den Forderungen des Westens, auf Kinderarbeit zu verzichten, weniger edle Gesinnung als Protektionismus.
Deutschland ist der weltweit größte Absatzmarkt für handgeknüpfte Orientteppiche. Viele von ihnen entstehen in kindlicher Schuldknechtschaft. Dabei verleihen verschuldete Eltern ihr Kind gegen einen Kredit von 60 bis 200 Mark an Teppichfabrikanten. Nach Jahren der Arbeit leiden viele Kinder an schweren Krankheiten und werden durch jüngere ersetzt.
Im Mai 1994 konzipierten Brot für die Welt, Misereor und terre des hommes zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der britischen Organisation Anti-Slavery International das ethische Warenzeichen „Rugmark“, das Freiheit von Kinderarbeit verbürgen sollte. Doch die Überprüfung der Rugmark-Lizenznehmer ist schwierig. Ein halbes Jahr nach Einführung konnte Rugmark nur noch eine 70prozentige Garantie geben, daß die Teppiche nicht von Kindern hergestellt wurden. Nicht einmal die Herstellung durch Kinder aus Schuldknechtschaft ist ausgeschlossen.
Der Einkaufsdirektor von Karstadt, Jens Gerstenkorn, erklärte das so: „Ein unangemeldeter Besuch in einem Dorf ist nicht möglich.“ Gerstenkorn hofft nun darauf, daß Karstadt die aktive Werbung für Rugmark erspart bleibt und die Kirchen genügend Öffentlichkeitsarbeit machen, um die Nachfrage anzukurbeln. Gegner hat die Rugmark-Initiative vor allem in den Reihen der Fachhändler. Sie fordern ungeteilten Druck auf die Hersteller, da Kinderarbeit für eine nach unten wirkende, ruinöse Lohn-Preis-Spirale sorge.
Bei Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, hat sich allerdings die Einsicht durchgesetzt, daß unter den gegebenen Verhältnissen Kinderarbeit nicht abzuschaffen ist. Die Organisation rechnet bis zur Jahrtausendwende mit weltweit 375 Millionen Kinderarbeitern. Unicef macht sich deshalb für Unterrichtsformen stark, bei denen Kinder wenigstens zeitweise neben der Arbeit eine Schulbildung erwerben können, um so den Teufelskreis aus Armut und Unwissenheit zu durchbrechen.
Es ist vor allem der Preisdruck des westlichen Marktes, der in der Dritten Welt Kinderarbeit erzeugt. Das Umschuldungsprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds zwang beispielsweise Brasilien zum Abbau sozialer Leistungen. Die Zahl der Kinderarbeiter und deren Tagesarbeitszeit stieg daraufhin steil an. Tausende von Kindertagelöhnern pflücken in Südamerika Kaffeekirschen, jäten Unkraut, düngen Jungpflanzen, gehen mit Pestiziden um, damit Deutsche ihren Kaffee billiger trinken können.
Internationale Konzerne lassen etwa Einzelteile billig von asiatischen Subunternehmern fertigen. Als in den 70er Jahren die Teppichexporte des Iran aus politischen Gründen zurückgingen, wuchs die Nachfrage nach indischen Teppichen rapide. Manufakturen schossen aus dem Boden. Dort erhalten Kinder bei gleicher oder besserer Arbeit als Erwachsene den halben Lohn. Noch verheerender ist die westliche Nachfrage nach pornographischen Produkten: In über 80 Prozent der privat gehandelten Kinderpornos in Deutschland zwingen Weiße thailändische und philippinische Kinder zu Sexakten jeder Variation.
Kein Kommunist, sondern Europas größter Orientteppichimporteur, Huschmand Sabet, gab im Frühjahr 1994 ein „Weißbuch Kinderarbeit“ heraus. Der Unternehmer wirft den Hilfsorganisationen vor, keine Konsequenz aus ihrer Erkenntnis gezogen zu haben, daß Kinderarbeit eine Folge des „wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichts zwischen der Ersten und der Dritten Welt“ sei. Der Schuldige sei nicht in der Dritten Welt, in diesem Falle Indien, zu suchen, sondern in der Struktur des westlichen Wirtschaftssystems. Die Industrieländer hätten ihre sozialen Probleme nicht gelöst, sondern sie auf die Dritte Welt als billige Rohstoff- und Arbeitsreserve verlagert.
Letztlich aus Sabets Feder stammt auch die Care&Fair-Initiative, die in ihrer Konsequenz auf eine Art Weltlastenausgleich abzielt. Die Grundidee ist einfach: Eine komplette Wirtschaftsbranche solle sich zu einer freiwilligen Abgabe entschließen, mit der die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Bedingungen in den Ursprungsländern ihrer Produkte verbessert werden. Die Kinderarbeit im einzelnen anzugehen heiße lediglich, das Symptom zu kurieren, nicht die Ursache.
Die Care&Fair-Abgabe sei ohne bürokratische Umwege schon beim Zoll zu erheben und von dort ohne Reibungsverluste abzuführen. Quasi zur Bestätigung der Machbarkeit der Idee hat sich der deutsche Teppichfachhandel inzwischen zu einer einprozentigen Selbstbesteuerung bereit erklärt. Momentan zeigen jedoch die Kaufhäuser und Versender Care& Fair die kalte Schulter. Grund ist vor allem die mangelhafte Umsetzbarkeit unter Marketinggesichtspunkten. Karstadt-Manager Gerstenkorn: „Beim Rugmark-Siegel kann der Käufer den Teppich seinen Nachbarn zeigen und sagen: ,Schaut mal, was ich für einen tollen Teppich gekauft habe.‘“
Ob ethische Gütesiegel überhaupt einen Sinn haben, bezweifelt Volkmar Lübke vom Institut für Markt, Wirtschaft und Gesellschaft, Hannover. Lübke: „Es gibt den ethischen Konsumenten nicht.“ Wohl aber, warnt Lübke in Bad Boll, eignete sich das Instrument des ethischen Gütesiegels als Gewissenswaschanlage.
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