: Unsere Leichen laichen wieder
Splatter im Keller, Thriller über Tage und Monster aus dem All: Mit seinen Sand-, Candy- und Kettensägenmännern ist das Fantasy Filmfest 95 fast ein Ort glückseliger Nostalgie ■ Von Harald Fricke
Der Rausch kommt erst am Ende der Woche. Wie bei jedem guten Festival muß man sich auf dem Fantasy Filmfest mühsam in Ekstase sitzen und Blutorgie um Blutorgie vorüberziehen lassen, bis dann irgendwann im Getümmel und Zermetzel so eine angenehme buddhistische Leere aufblitzt; wenn alle Schocks verflogen sind und sich die Klarheit, wenn nicht Gewißheit einstellt: Es sind halt doch alles Zeichen gewesen.
Ähnlich wie bei „Nightwatch“ im letzten Jahr hat man heuer bei „Mute Witness“ das deutliche Gefühl, es könnte vielleicht der Thriller sein, der dem Splatter-Genre aus dem selbstangerührten Schlamassel hilft. In einem Moskauer Theater dreht ein amerikanisches Filmteam einen Splatterfilm. Die Maskenbildnerin, die stets und freudig Plastikbeutel mit frischen Himbeerblutsaft bereitstellt, ist taub. Es geschieht, was geschehen muß: Sie bleibt allein in dem großen Theater zurück und stößt zu ihrem namen- und vor allem sprachlosen Entsetzen im Keller auf ein anderes Filmteam, das einen „Snuff“-Film (das Abfilmen eines realen Mordes) dreht. So bleibt die kulturelle Hierarchie erhalten (Splatter im Keller, Thriller mit Politmasse über Tage), und trotzdem lebt eines konvenient von dem anderen. Ständig bleibt einem die Luft weg.
Diesmal ist mit „Species“ (Regie: Roger Donaldson) ebenfalls sehr zu rechnen. Dort finden unappetitliche Verknüpfungen auf der Basis von Gentechnologie statt, Menschen werden mit ganz und gar andersartigen Kreaturen verknüpft, deren Ausgeburten dann von H. R. Giger gestaltet wurden. Objekte oder „Alien“ sind sie schon nicht mehr, aber auch dem Menschlichen bleiben sie fremd, und Ben Kingsley irrt durch diesen Sci-Fi-Alptraum. In Japan hat merkwürdigerweise das Verteidigungsministerium mit „Gamera“ einen Film in der Godzilla-Tradition über Nuklearbedrohung und Naturkatastrophen im allgemeinen koproduziert.
Hier zeigt sich ein Problem des Genres: Viel Neues gibt es kaum. All die Sand-, Candy- und Kettensägenmänner, die über die Leinwand kreuchen, hat es früher schon gegeben. Fantasy erscheint fast wie eine Zone voller Nostalgie. Aber die Reanimation von bereits Reanimiertem gehört zur Geschichte der Splatterbewegung – wenn alle Untoten ewig untot bleiben, dann sammelt sich einiges im Zwischenreich an.
Bei Clive Barker ist der zweite Teil von Candyman eine auch handlungsmäßige Fortsetzung der Geschichte um jenen schwarzen Sklaven, der die Tochter seines Gutsherrn schwängerte und dafür in Honig gelegt wurde, worauf ihn Bienen zu Tode stachen. Jetzt wird nur nicht mehr in den Slums von Chicago gemordet, sondern beim Mardi Gras in New Orleans. Ein graubezopfter Schriftsteller verspottet den Racheengel, indem er seinen Namen fünfmal aufsagt wie Kinder einen Bannzauber, und schon taucht das Monster mit der Stahlkralle höchstselbst aus der Spiegelwelt auf, um den Herrn Literaten niederzumachen. Das Problem des wandelnden Toten liegt im Blut: Solange noch Nachfahren von ihm existieren, hat er ein Anrecht auf ihr Leben.
Auch Leatherface ist zurückgekehrt: Der Mann mit der Kettensäge, an dem seit Tobe Hoopers 74er Original jedes folgende Massaker gemessen werden muß, hat über die Jahre so etwas wie sein eigenes Genre herausgebildet, Schnitte, Zensur und Jugendschutz inklusive. Zuletzt hatte das Grauen eher die parodistischen Züge eines Musicals. In Kim Henkels Darstellung begegnet man jedoch erneut jener Manson-artig zusammenlebenden Freak-Familie, die den Mann mit der Maske umgibt. Henkel hatte bereits zu Hoopers Film das Drehbuch geschrieben, also mal abwarten.
Jüngere Regisseure allerdings geraten durch solcherlei Rituale der Wiederholung schwer in die Bredouille. Einerseits muß man den Horror und die Special effects vorantreiben, andererseits soll dabei das ganze stimmungstechnisch möglichst den Late-Night-Klassikern artverwandt sein – anders als Star-Trekkies sind Splatter-Fans in der Regel Veränderungen gegenüber skeptisch. Selbst die modischen Serienmörder gehören bereits in Filmen wie Wes Cravens „Der Hügel der blutigen Augen“ zum festen Personal der siebziger Jahre. Dieses Jahr nimmt es allerdings überhand mit dergleichen Psychopathen, die wie Ikonen nahezu religiös besetzt werden: In „Hideaway“ macht Jeff Goldblum als traumatisierter Vater die Bekanntschaft eines Killers, der seinen Opfern die Augen rausschält; Carl Schenkels „Exquisite Tenderness“ läßt einen irregewordenen Arzt seinen Patienten in der Leber bohren, und im französischen Kurzfilm „Vibroboy“ drillert der aztekische Killer seine Opfer mit einem Dildo nieder. Ansonsten sind die Filme praktisch sexfrei, damit sich nicht die verschiedenen Wallungen gegenseitig aufheben.
Das Fantasy Filmfest 95 findet bis zum 9. 8. im Filmpalast, Eiszeit, Freilichtkino Bethanien und in der Brotfabrik statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen