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In Merlins Zauberwald

In der alten Waldlandschaft von Brocéliande in der Bretagne wuchern die Sagen und Mythen üppig  ■ Von Günter Ermlich

Die Geschichte beginnt mit der Geburt – in der ,kleinen Bretagne‘, im Herzen des Waldes von Brocéliande – der Tochter des Königs Dyonas. Die junge Viviane ist mit drei Gaben ausgestattet: Schönheit, Weisheit und dem Versprechen, von dem außergewöhnlichsten Mann der Zeit geliebt zu werden. Aber wer bekommt, der muß auch geben: Viviane soll ihr Leben dem Wald von Brocéliande weihen und darf ihn bis auf zwei, drei Ausnahmen nie verlassen.“

So schön steht es auf einer Ausstellungstafel im bretonischen Schloß Comper geschrieben. Am Fenster lehnt Claudine Glot: knöchellanger weißer Rock, schulterlanges graues Haar, von einer Spange gebändigt. Eine Fee. Wenn es stimmt, daß sich nicht nur Eheleute im Laufe der Jahre physiognomisch angleichen, sondern auch die intensive Beschäftigung mit einem Sujet Spuren hinterläßt, dann trifft das auf Claudine zu. Mit ihrer samtenen Stimme haucht sie den Gestalten der bretonischen Sagen und Mythen Leben ein: König Arthur, Lanzelot und den anderen Rittern der Tafelrunde, dem Zauberer Merlin, den Feen Viviane und Morgana.

Das rötliche Gemäuer von Schloß Comper, düster und trutzig, spiegelt sich in der glatten Wasseroberfläche des angrenzenden „Großen Sees“. Hier soll die blonde Viviane, „La dame du lac“ (die Dame des Sees), geboren sein. Merlin, der Zauberer aus der Arthur-Saga, baute seiner Märchenfee einen Palast aus Kristall auf dem Grunde des Sees. Hier erzog sie den Rittersmann Lanzelot zur Keuschheit. Das Bild vom Kristallschloß – Kristall ist wie Wasser durchsichtig – taucht als „Ile de verre“ (Glasinsel) im keltischen Universum wieder auf, erzählt uns Claudine. „Wir Menschen sehen nur einen See, dort, wo in Wirklichkeit ein Schloß ist.“ Der See als Illusion, vom Zauberer Merlin ausgeheckt, um das Kristallschloß seiner angebeteten Fee zu schützen. Das Wasser bedeute in bretonisch- keltischen Legenden die Grenze zu einer anderen Welt. Man müsse die Wasserbarriere überwinden, um Zutritt zur Welt der außergewöhnlichen Wesen zu bekommen, weiß Claudine.

Unser Blick geht durchs Fenster nach draußen, fällt auf den See hinter dem Schloß, der von Wald begrenzt ist. Ständig wechselt das Licht. Die schnellen Wolken verdecken die Sonne, ein Regenschauer entlädt sich, dann bricht die Sonne wieder durch. Bretonisches Fotowetter. Ein würdiges Sagenszenario, fast wie bestellt. Augen zu – und der herrliche Kristallpalast Vivianes könnte im See auftauchen.

Legenden gibt es in der Bretagne wie Sand am Meer. Chrétien de Troyes besorgte im 12. Jahrhundert die Urfassung der französisch-höfischen Arthur-Saga, die dann von Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach in deutscher Version herausgebracht wurde. Wer heute das bretonische Fantasialand aufsucht, der sollte schon etwas sagenfest sein oder ein Mythen-Nachschlagewerk im Gepäck mitführen. Oder ein wandelndes Lexikon an seiner Seite haben, wie die „Fee“ Claudine.

Claudine Glot ist die Präsidentin der Organsiation „Centre de l'Imaginaire Arthurien“. Mit anderen „Freunden der Arthur-Saga“, alles Freiwillige, denen der Sinn nach der Forstwelt und den Rittersagen steht, sammelt sie die Legenden rund um die Tafelrunde des Sagenkönigs Arthur. Seit 1990 hat die Organisation Räume im Privatschloß Comper zur Verfügung, um ihre vielfältigen Kunstwerke in einer multimedialen Dauerausstellung zu zeigen. Ein Raum widmet sich den Ritterrüstungen, Standarten und Visieren, in einem Zelt wird der Film „Excalibur“ von John Boorman gezeigt, im Treppenflur hängen Nachdrucke des Malers William Russell Flint, eine Glasvitrine ist voll von Spielzeugrittern. Daneben gibt es Sonderausstellungen und im Sommer „legendäre“ Theaterspektakel; dieses Jahr stehen die „Ritter“ im Mittelpunkt.

Dann schlüpft auch Claudine in historische Tücher und ihr Mann, im zivilen Leben Dentist, wird zum bärtigen Ritter. 20.000 Touristen besuchen pro Jahr das bretonische Legendenzentrum, Tendenz steigend. Zwar gibt die Provinzverwaltung einen Zuschuß, dennoch ist Claudine, die früher Lehrerin für Geschichte und Literatur war und danach acht Jahre im Tourismusbereich arbeitete, unzufrieden: „Wir müssen uns von A bis Z selbst helfen. Im Fremdenverkehrsamt von Paimpont, nur fünf Kilometer von hier weg, spricht man nicht mal von uns.“ Schloß Comper gehört zum Département Morbihan, Paimpont liegt schon im Nachbar- Département Ile-et-Vilaine. Und auch das Comité Régional du Tourisme, die regionale Touismusorganisation, zeigt wenig Interesse an diesem dünn besiedelten Flecken, denn hier gibt es „keine Strände, keine großen Hotels, keine Yachthäfen“, so Claudine Glot.

Bisher war die Bretagne für Touristen vor allem das „Land am Meer“, die Strände am Atlantik bei St. Malo und Concarneau. Oder auch das „Land der Dolmen und Menhire“ rund um Carnac. Weil hierhin zwei bis drei Millionen Menschen jährlich pilgerten, zog das französische Kulturministerium einen Zaun, um die steinalten Megalithen vor menschlichen Handgreiflichkeiten zu schützen. Die „Terre des legendes“, die Bretagne der Sagen und Mythen im Landesinnern, wo man in Schlössern und Herrenhäusern übernachten kann, ist bisher wenig erschlossen und bekannt. Doch der Legendentourismus wächst langsam, aber stetig: Esoteriker, die auf ihrer Sinnsuche die keltische Mythologie bemühen, moderne Druiden, die die Wurzeln ihrer bretonischen Identität in Zeremonien suchen (besonders an Allerheiligen am 1. November) oder versessene „König Arthur“-Jünger, die die „Originalschauplätze“ ihrer Sagenhelden mal aus der Nähe sehen wollen. Cathérine, auch eine „Freundin der Arthur-Saga“, nennt diese Melange „tourisme d'identité“, identitätsstiftender Tourismus.

Im Wald von Brocéliande (der Name kommt wahrscheinlich von Barc'h Hlan und bedeutet „Reich der Druiden“), südwestlich der bretonischen Hauptstadt Rennes gelegen, wuchern die Sagen und Mythen besonders üppig. In dieser hügeligen, uralten Waldlandschaft, wild und romantisch (Germaniens Wälder lassen grüßen), spielen die außergewöhnlichen Abenteuer von König Arthur und seiner Tafelrunde. Hier machen sie sich auf die Suche nach dem wundersamen Heiligen Gral. In der Arthur-Dichtung ist er mal ein goldener Kelch, der Jesu Blut auffängt, mal ein Stein mit unbändigen Kräften. Die Legenden begründen sich allesamt auf der Mythologie der Kelten und der Glaubenslehre der Druiden. Aus heidnischen Traditionen gespeist, wurden die Legenden mit geschichtlichen Ereignissen und biblischen Stoffen verquirlt. Die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit ist fließend, die Grauzone zwischen Legende und Geschichte immens, die wissenschaftliche Durchdringung des Sagendickichts noch am Anfang.

Merlins Grab (die Engländer verorten es in Cornwall, die Schotten im Fluß Tweed) ist so eine Kultstätte. Sie wird im Sommer von Pilgern überrannt. Doch der heilige Ort des Zauberers wirkt merkwürdig profan, ja würdelos. Ein zerstörtes megalithisches Monument, in zwei Felsblöcke geteilt, daneben eine offensichtlich kranke „Ilex aquifolium“ (Stechpalme), etwas dahinter eine schattenspendende Eiche, der Baum des Druiden. Auf dem Grab selbst liegen durch- und übereinander Reste vertrockneter Blumensträuße, Geldmünzen, sonnenvergilbte Papierfetzen. „Ich möchte der Beste in der Klasse sein“, wünscht sich ein Loic. „Heute ist Muttertag. Hilf mir Merlin, meine Handtasche wiederzufinden, mitsamt ihrem Inhalt“, fleht eine Sophie.

Aber eigentlich ist diese unaufgeregte, „unprofessionelle Aufbereitung“ des Zauberergrabes – wie auch der anderen Legendenplätze – ganz sympathisch. Keine Reinigungstrupps, die das Grab tagtäglich schön wiederherrichten. Wann werden eifernde Tourismusstrategen, auf der nimmersatten Suche nach immer neuen Attraktionen und Innovationen, die Brocéliande-Sagenwelt als „Bretonische Legendenstraße“ touristisch vermarkten? Demnächst in dieser Landschaft!

Weitere obligatorische Stationen auf dem Legendenweg sind das sogenannte „Haus von Viviane“, ein Megalithgrab aus zwölf roten Schieferplatten, das erhöht auf einer kahlen Hochfläche ruht. Und vom Weiler „Folle Pensée“ (verrückter Gedanke) führt ein ausgeschilderter Pfad zur Waldquelle von Barenton, wo der Zauberer Merlin dem Zauber der jungen Viviane verfiel. Einige Quelltropfen auf den „Perron von Merlin“, einer Steinplatte, genügten, so die Fama, und es geschahen Wunder wie plötzlich losbrechende Stürme und gewaltige Regenschauer in Zeiten der Trockenheit. Darauf baute die katholische Kirche, wallfahrtete fleißig zur Quelle, ein Priester segnete das Wasser, betete um das Naß von oben. Und siehe da, es schüttete dermaßen aus vollen Kübeln, daß man die letzte Prozession anno 1835 sogar auflösen mußte.

Doch auch ein Zauberwald wie Brocéliande, der früher weite Teile der bretonischen Halbinsel bedeckte, ist verletzlich: Flächenrodungen zugunsten der Landwirtschaft, Brandstiftungen und Naturkatastrophen wie Brände und Stürme haben den Forst auf ein Kerngebiet von 7.000 Hektar verkleinert. 90 Prozent der Waldfläche ist heute Privateigentum, es gibt Holzwirtschaft und Jagd. Sicher, ein Nationalpark wäre wünschenswert, meint Claudine Glot, aber da spielten die Besitzer aus wirtschaftlichen Gründen nicht mit, „eher würden sie ihren eigenen Wald anzünden“. Schon vor über 60 Jahren wetterte Charles le Goffic gegen diejenigen, die „eine Identität schaffen wollen zwischen dem Wald der Literatur und dem des Katasteramtes. Existiert denn dort dieser Wald nur als Holzindustrie? Ist das nicht ein literarischer Wald, eine Schöpfung von Merlin?“ Wen wundert da noch die Geschichte des Bauern (ausnahmsweise keine Legende!), der anläßlich der Heirat seiner Tochter kurzerhand eine Eichenallee fällen ließ. Die Straße sollte halt sauber sein, frei von Blättern, meinte der Bauer. Im „Val sans retour“ (Tal ohne Wiederkehr) bei Tréhorentuec begab es sich, daß die brünette Fee Morgana, Schwester des Königs Arthur, Ritter und verlogene Liebende wegsperrte, bis Schildknappe Lanzelot die Gefangenen erlösen konnte. In dieser felsigen Waldschlucht mit prächtiger Vegetation und einem Teich namens „Feen-Spiegel“ (Miroir des fées) wollten komplett Phantasielose eine – quel horreur! – Mountainbikestrecke anlegen. Und hier „hatten Barbaren vor kurzem die Absicht, einen Parkplatz anzulegen“, erfahren wir aus einer Brocéliande-Broschüre. Doch „es brach Zetergeschrei aus und die Vandalen zogen sich zurück“.

Der letzte große Waldbrand von 1990, eine Brandstiftung, verschonte auch Morganas Tal nicht. Doch er rüttelte die Waldanwohner wach. Wenn der Wald in Schutt und Asche liegt, wird mit ihm dann auch der Zauber der Legenden verschwinden, fragten sie sich besorgt – und spendeten. Neben einigen Großsponsoren wie Yves Rocher haben viele Leute kleine Schecks geschickt, 20 oder 50 Francs für ein neues Bäumchen. Und der Bildhauer Francois Davin setzte mit seinem Kunstwerk ein Lebenszeichen: In der Mitte von fünf schwarzen verbrannten Baumstämmen vergoldete er einen Baum mit Blattgold und umgab das bizarre Baumstumpfensemble mit einem Dickicht rotbrauner Schieferplatten. Gold, das ewige Metall, ist das Symbol der Ewigkeit. Wenn wir wollen, will uns der Künstler mit seiner Naturskulptur wohl sagen, daß der Wald ewig währt wie der güldene Baum, dann müssen wir wachsam sein, daß der Wald überlebt. En passant enstand so aus der großen Naturkatastrophe eine kleine Touristenattraktion.

Auf den verkohlten Böden der Riesenlichtungen im Brocéliande- Wald wachsen jetzt Heidekraut und Ginster. Schafe, Ziegen und Kühe weiden auf dem abgebrannten, eingezäunten Terrain und verdingen sich als Landschaftspfleger. Kürzlich habe man, schön in Trachten, den 500.000 neu gepflanzten Baum gefeiert, erzählt uns „Arthur-Freundin“ Cathérine. Doch wo früher Buchen und Eichen standen, setzt man heute meist schnell sprießende Kiefern.

In den Legenden, gibt erklärt uns Legendenexpertin Claudine Glot, kämen immer zwei Erscheinungen vor, das Natürliche und das Übernatürliche. Eine weibliche Person, der man zufällig begegnet, könne eine natürliche Person sein, aber genauso eine Gesandte des Übernatürlichen. „Das Problem ist, daß die Leute nicht wissen, wann sie es mit welcher der zwei Erscheinungen zu tun haben.“ Manche spürten es, andere nicht. Daran habe sich im Laufe der Jahrhunderte nichts geändert. „Das widerfährt heute einem Touristen genauso wie vor 200 Jahren einem Bauern oder im frühen Mittelalter einem Ritter in der Legende.“

Informationen:

Französisches Fremdenverkehrsamt, Westendstraße 47, 60325 Frankfurt/M. Tel.: 069/7560830. Centre de l'Imaginaire Arthurien, ChÛteau de Comper-en-Brocéliande, 56 430 Concoret, Frankreich. Tel.: 0033/97227996 (Kontakt: Claudine Glot).

Die „Ritter“-Sonderausstellung geht bis zum 1. Oktober; am 20. August gibt es noch eine „Ritter“-Theateraufführung.

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