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Mordsspaß mit Scherf

■ Senioren-Talk-Runde mit im Cafe am Emmasee voller böser Überraschungen

Es ist brechend voll im Café am Emmasee. An den Tischen ist kein Platz mehr – die weißen Plastikstühle sind Mangelware. „Schon 280 Senioren sind gekommen“, freut sich Jens Schmidtmann und reibt sich die Hände. Der Veranstalter und Moderator der Senioren-Talk-Show, die gestern das erste Mal „Open Air“ stattgefunden hat, erwartet hohen Besuch: Neben Bernd-Artin Wessels, Unternehmer des Jahres sowie Hannelore und Karl-Heinz Senkstake, dem früheren Freimarktpaar, will sich u.a. auch Bürgermeister Dr. Henning Scherf zu ihm aufs Podium setzen. Doch der Bürgermeister läßt auf sich warten. „Das ist der Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft“, knurrt Bernt-Artin Wessels. „Wir sind immer pünktlich. Schließlich müssen wir das Geld verdienen, das die Politiker ausgeben.“

Eine Viertelstunde später. Jens Schmidtmann läuft aufgeregt zwischen den Tischen hin und her. „Ich bekomme gleich einen Herzinfarkt“, stöhnt er und fährt sich mit der Hand durchs Haar. „Der Bürgermeister ist noch nicht da. Die Lautsprecheranlage geht nicht. Das bringt mich außer Rand und Band.“ Die Senioren sitzen derweil ruhig an ihren Tischen, trinken Kaffee und lassen sich die Himbeertorte schmecken. „Komm Hannes, iß' ruhig noch n' Stück. Is' diesmal alles umsonst“, ermuntert eine ältere Dame den Herrn neben sich. Bernd-Artin Wessels nippt an seinem Glas Sekt. „Das ist typisch“, regt sich eine ältere Dame künstlich auf. „Die trinken Sekt, und wir kriegen Kaffee. Da kann man richtig den Klassenunterschied sehen.“ Ob sie in der Zeitung zitiert werden darf? „Selbstverständlich. Aber meinen Namen sage ich Ihnen nicht. Schreiben Sie einfach, eine Stimme aus dem Volke.“

Endlich kommt der Bürgermeister. „Ahh, da ist er ja“, freut sich ein älterer Herr, zückt die Ritsch-Ratsch-Klick-Kamera und schießt ein Foto fürs Familienalbum. Henning Scherf schreitet durch die Tischreihen. „Tach auch, schön, daß Sie alle gekommen sind. Schön, Sie zu sehen“, sagt er und schüttelt die unzähligen Hände, die sich ihm entgegenstrecken. „Herzlichen Glückwunsch“, ruft ihm eine ältere Frau zu. „Danke. Danke. Sie müssen mir helfen, damit das auch klappt“, lacht Scherf. Etwa zehn Minuten geht er durch die Tischreihen. Umarmt wird allerdings niemand. Ob Scherf den Spiegel gelesen hat, der ihm in der aktuellen Ausgabe eine Neigung zu „ungestümmen Körperkontakt“ bescheinigt?

Als er schließlich am Podium ankommt, erfährt er, daß die Lautsprecher-Anlage noch immer kaputt ist. Kurzerhand dreht Scherf sich wieder um. „Ich hab' noch n' paar ausgelassen“, sagt er trocken und geht wieder Händeschütteln. „Herr Scherf. Da hinten in der Meierei sitzen auch noch Leute, vielleicht sollten Sie denen auch die Hand schütteln“, spöttelt eine ältere Frau und lacht. Schmidtmanns Stirn glänzt. Nervös trommelt er mit seinen Fingern auf den Tisch. Vor über einer halben Stunde sollte die Talk-Show beginnen. Plötzlich erhellt sich sein Gesicht, und er steht auf. „Können wir nicht alle mal ein Lied singen. Ein schönes Lied“, fragt er. Das lassen sich die älteren Herrschaften nicht zweimal sagen. „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Hunger, Hunger, Hunger“, singen sie im Chor. „Nein, nein“, unterbricht Schmidtmann und wedelt mit den Armen. „Geht nicht: ,So ein Tag, so wunderschön wie heute'?“ Ein Mann schleppt eine Lautsprecherbox ran. „Gott sei Dank“, raunt Schmidtmann. Eine Minute später hält er das Mikro in seiner vermutlich schweiß-nassen Hand. „Nu' geht's los. Mit nur fünf Minuten Verspätung.“ Alles lacht. „Jetzt hören wir die Anfangsmelodie von Iris-Kerstin Peters.“ Schmidtmann hält das Mikrophon dicht vor die Orgel. „Tuuuuuuuuuuuuuut“, ist der einzige Ton, den die Pianistin der Orgel abringt. „Jetzt stimmt hier mit der Technik was nicht“, sagt sie. Gelächter. Neuer Versuch – die Melodie ertönt. Die Senioren wippen begeistert im Takt. Als der letzte Ton verklingt, geht es endlich in die Talk-Runde. „Herr Bürgermeister“, schimpft eine ältere Dame ernst. „Ich habe gehört, Sie bekommen demnächst 60 Prozent mehr Diäten. Meine Rente wird gekürzt. Ich möchte mal für einen Monat Ihr Einkommen haben, und Sie bekommen meine Rente.“ „Das ist eine Fehlinformation“, stellt Scherf klar. „Aber gut“, läßt er sich scheinbar auf den Handel ein. „Sie kriegen mein Gehalt – aber machen Sie auch meine Arbeit.“ Eine Seniorin fängt schallend an zu lachen. Ihr Kopf fällt zurück in den Nacken – Tränen kullern aus ihren Augen. „Ich war schon oft auf der Senioren-Talk-Show“, sagt sie. „Aber so viel Spaß wie heute hatte ich noch nie.“ kes

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