: Franz Kafka im Arbeiterurlaubsparadies
Millionen Russen verbrachten zu Sowjetzeiten ihren Urlaub in Sotschi, der Perle der Schwarzmeer-Riviera. Einige tun es immer noch – und finden sich in einer untergegangenen Welt wieder. ■ Aus Sotschi Klaus-Helge Donath
Swetlana Parchomenko drehte und wälzte sich im Schlaf. Um sie herum krachte und donnerte es, als ob Wände bärsten. Sie träumte, mitten im Epizentrum eines Erdbebens zu sein. Schweißgebadet wachte sie auf. Die Wände standen, wo sie immer waren. Kein Beben, kein Zittern. Neben ihr schnarchte ihr Mann seelenruhig – wie gehabt. Doch der Lärm in ihrem Ohr wollte sich nicht legen. Sie weckte den Gatten, und der schaute ihr ins Ohr. Rückenteil und Hinterbeine eines Kakerlaken lugten ihm entgegen. Sie fuhren ins Krankenhaus, das Riesenvieh hatte sich schon zu weit in den Gehörgang gezwängt. Die Parchomenkos stammen aus Chabarowsk im fernen Osten Rußlands und wollten sich drei Wochen in Sotschi am Schwarzen Meer erholen. Die Reise über mehrere tausend Kilometer kostete sie 400 Dollar. Offiziellen Statistiken zufolge entspricht das drei Monatseinkommen. Und nun so was. Der Direktor des Erholungsheimes „Turbasa“ fand nicht einmal ein Wort des Bedauerns. Im Gegenteil: „Haben Sie in Chabarowsk etwa keine Kakerlaken? Seien Sie dankbar, daß in ihrer Suppe keine Viecher schwimmen!“ soll er noch gesagt haben. Überhaupt, schließlich sei die ärztliche Behandlung ja kostenlos gewesen ...
Sotschi war einst die Perle der Schwarzmeer-Riviera, wie die Russen den östlichen Küstenstreifen zwischen Tuapse und der russisch-abchasischen Grenze nennen. Millionen „Kurortniki“ verbrachten in Sowjetzeiten ihren Urlaub hier. Für die meisten war es ein Traumziel, Platz für alle gab es nie. Doch einmal mußte man dort gewesen sein. Ein Schnappschuß mit Promenade findet sich in beinah jedem Familienalbum.
Alexej empfängt die Gäste schon auf dem Bahnsteig. Züge laufen ein, die Europa von Nord nach Süd durchfahren haben, aus Murmansk und Workuta hinter dem Polarkreis. Den Ankommenden steht die Tortur einer mehrtägigen Bahnfahrt ins Gesicht geschrieben. Alexej bietet Zimmer an, obwohl er weiß, daß es wenig Sinn macht. Touristen aus den Kohlegruben des hohen Nordens haben schon ein Quartier. Firmen, die sich es noch erlauben können, unterhalten ihre eigenen Tourbasen oder Sanatorien. Die anderen kommen gar nicht erst hierher. Die Herbergen wechseln immer häufiger ihre Besitzer.
Die Sanatorien, die waren der Stolz dieser Gegend. Längs der Küstenstraße reiht sich eins ans andere, „Kumpel“ oder „Schachtior“, der Proletkult verlieh die Namen. Tore und Wachen versperren die Zufahrt nicht nur zu den Heimen der Nomenklatura. Der einfache Kurgast sollte wohl das Gefühl haben, vorübergehend etwas Besseres zu sein. Ein Schild vor dem „Metallurg“ preist die hohe Kunst der „Kurortologie“ – der Bäderkunde. An allem haftet Staub.
Der Erholungsfachmann mag das Ausland nicht
Sotschi atmet den Geist der verstrichenen Epoche, doch es atmet zunehmend schwerer. Als liege es in Agonie. Die Fassaden an der Uferstraße haben lange keine Farbe mehr gesehen. Steine bröckeln, Geländer neigen sich zur Seite. Die Uferpromenade vor dem einstmals mondänen Hotel „Dschemtschuschina“ zeigt klaffende Wunden, Platten fehlen. Keiner denkt daran, die Gefahrenstellen abzusichern, obwohl man gern dem Alkohol zuspricht. Hier und da hat ein neues Café oder Restaurant eröffnet, sie stechen heraus durch ihre Leuchtreklamen.
Das alte Gebäude des Intourist- Hotels, wo früher Ausländer privilegiert untergebracht wurden, dämmert hinter einer riesigen Freitreppe. Das Erdgeschoß ist verlassen. Private Reisebüros sind in die oberen Etagen eingezogen. Sie bieten Urlaub im sonnigen Westen, in Griechenland, der Türkei oder Spanien an. Ein Wunder, daß man sie überhaupt duldet. Denn der verantwortliche Touristikmanager in Sotschis Stadtverwaltung hat überhaupt nichts für das Ausland übrig.
Hartnäckig leugnet er den Rückgang der Besucherzahlen. Hintenrum allerdings liefert er den Nachweis. Der Westen würde durch aggressive Werbung die Russen dem Schwarzen Meer abspenstig machen. Ein nicht näher lokalisierter, doch vermutlich türkischer Geheimdienst streue systematisch Meldungen über ein bevorstehendes Erdbeben. Selbstverständlich mischen seiner Meinung nach auch noch andere mit. Kurzum: Diversion. Der Erholungsfachmann entpuppt sich als Verschwörungstheoretiker alten Schlages. „Sotschi stellt für den Westen eine ernstzunehmende Konkurrenz dar“, sagt er.
Ludmilla, geboren im sibirischen Omsk, wohnt im renommierten Dschemtschuschina. Siebzig Dollar pro Nacht blättert sie dafür hin. Für einige Tage hat sie sich von ihren Geschäften in Moskau frei gemacht: „Nur mal so zwischendurch...“ Das letzte Mal war sie vor fünf Jahren hier. „Damals war Sotschi und eine Nacht in diesem Hotel für uns die Erfüllung aller Wünsche“, sagt sie, während sie lustlos an ihrem Steak kaut. „Doch jetzt, es ist schrecklich...“ Im Dunkeln ist nichts auf dem Teller zu erkennen. Auf der Bühne quälen sich ein Tänzer und seine Nixen in avantgardistischer Tanzerotik. Sie erzählen Geschichten von gegenseitiger Unterwerfung, während die Rhythmusmaschine jeden Funken Lust gnadenlos vertreibt.
Ludmilla hat bereits andere Länder gesehen. Es war die Neugier, die sie nochmals hierherführte, „um zu vergleichen. Rußland gegen Westeuropa.“ Einige ihrer Freundinnen planen eine Reise für August. „Ich werde ihnen raten, gleich ans Mittelmeer zu fahren. Dort gibt es fürs gleiche Geld mehr.“ Doch warum kommen dann überhaupt noch Russen nach Sotschi? Diejenigen, die nicht ins Ausland führen, fürchteten, sich dort nicht zurechtzufinden: „Die meisten Russen können keine andere Sprache. Und macht es Spaß, beim Meckern nicht verstanden zu werden? Ist ein Urlaub ohne Beschweren ein Urlaub?!“
Unterdessen – die letzten Hüllen sind aufgesammelt, und die langbeinige Blonde hat die Bühne abgelaufen wie ein Nummerngirl – setzt die Musik wieder ein. Eine Natalja aus Nischnijwartowsk im nördlichen Ural hat einen Tanz geordert, nachdem ein Tänzer gefunden war. Sie ist in ihrem Element und läßt es sich was kosten. Später tanzt sie nur noch mit einer Frau, denn Frauen sind hier in erdrückender Übermacht.
Angewidert schiebt Ludmilla ihren Teller mit Lendensteak auf Jägerart beiseite (der Kellner hatte es als besonders schmackhaft empfohlen), macht ihre Handtasche auf und fummelt Tabletten hervor – Lewomezin. „Ich glaub', das Fleisch war verdorben“, sagt sie gelassen und nimmt zwei. Recht hat sie, zwei Stunden später setzen schon die Folgen ein. In den Apotheken ist das Medikament vergriffen, nur auf dem Markt in brütender Sonne verkaufen Babuschkas das Mittel gegen Vergiftungen.
Die Kurortniki sind einfach gekleidet, anders als auf den Straßen Moskaus oder Petersburgs. Die Provinz hat sich eingefunden, während die Haupt- und Großstädter andere Ziele suchen. Verschwindet die Sonne hinter den Wolken, taucht der Ort in ein trauriges Grau. Die Wellenbrecher in der unruhigen See ragen wie bedrohliche Sporne ins Meer. Ihr Rost und angenagter Beton erinnern an Industriefriedhöfe. Wie einfach wäre es, durch ein bißchen Farbe, einen weißen Anstrich...? Doch wozu? War es jemals anders?
Die Klofrau rationiert das Klopapier
Die meisten Strände sind gebührenpflichtig. Im Schnitt um die 5.000 Rubel, etwas mehr als ein Dollar, für eine Holzpritsche noch mal das gleiche. Gebühren kassieren verpflichtet zu nichts. Abfälle fliegen herum, Flaschen und Plastiktüten, dazwischen verwitterte Materialien einst heroischer Bauvorhaben. Die Toilettenfrau an der Promenade gleich neben Sotschis legendärem Songpalast kassiert 1.000 Rubel und will trotzdem kein Klopapier rausrücken. Schließlich opfert sie drei Blatt, sie hat sie schon in gleichen Portionen vorbereitet, exakt an der Perforierung abgerissen. Natürlich gibt es auch in Sotschi inzwischen genügend Klopapier. Doch hier wird geknapst, hier wird eine alte Tradition künstlich wachgehalten.
Mit wehmütiger Stimme zeigt Rentner Sergej den Reisenden das Gebäude der Kommunistischen Partei im Vorort Adler, eine Plattenhütte wie Abertausende im Land. „Na ja, nun sind da schon andere drin.“ Sotschi hatte seine natürlichen Ressourcen, Sonne und Meer und den Kaukasus als Hinterland. Man selbst brauchte nichts mehr hinzuzufügen, das kam früher aus Moskau. Nun bleiben selbst die Touristen aus. Die Einheimischen sind verbittert.
Der Barkeeper im Lasurnaja, Aljoscha, langweilt sich. Kurz nach Mitternacht und schon keine Kundschaft mehr. Das Lasurnaja ist ein neues Viersternehotel unter amerikanischem Management. Bis zum Frühjahr sei das Etablissement an Wochenenden fast komplett ausgebucht gewesen. Doch seit der tschetschenischen Geiselaffäre in Bujonnowsk bleiben die Gäste weg. Ganze 14 Prozent Auslastung im Juni. Die Kundschaft gehört zum neuen russischen Geldadel, vornehmlich aus Moskau und Petersburg.
Am Strand des Lasurnaja tragen schon die Jugendlichen Goldkettchen um den Hals. Die Männer lesen Star Wars, die Frauen Liebesromane. Trivialliteratur hat für sie, was das Geld angeht, einen gewissen Realitätsgehalt. Vielen sieht man an, aus welch einfachen Verhältnissen sie stammen. Das alte System hätte sie bestenfalls mit einem „putjewkij“ – Urlaubsschein – in einem Massenquartier belohnt. Jetzt können sie sich alles leisten. Ein emanzipatorischer Fortschritt, der die Klassenunterschiede der Sowjetzeit obsolet werden ließ. Auch eine Art Wiedergutmachung.
Auffällig ist: Im Lasurnaja wird nicht gesoffen wie überall sonst. Es fehlt auch das ubiquitäre Hinweisschild mit den Baderegeln, das unter Punkt eins stereotyp vermerkt: „Im betrunkenen Zustand nicht baden“. Eingehalten wird diese Vorschrift natürlich nicht, denn Betrunkene lesen gewöhnlich nur selten die Hausordnung. Und so sieht man sie ins Meer wanken, die harte Brandung treibt dort ihr Spiel mit ihnen. Meistens geht es noch mal gut, wie bei dem Mann aus Tscheljabinsk. Eine Viertelstunde kämpft er mit dem Wasser. Hat er es fast an Land geschafft, reißen die Wellen ihn wieder hinein. Wie ein Käfer auf dem Rücken strampelt er mit allen vieren. Gerade mal schnappt er nach Luft, um von einem Brecher für unzählige Sekunden verschlungen zu werden. Schließlich spült ihn eine Welle an den Strand. Sein nächster Griff gilt der Pulle: erst mal einen trinken auf den Schrecken. Die Umgebung hat sich köstlich amüsiert, keiner warnt oder eilt zu Hilfe. Der Alkohol fließt aus allen Schläuchen, hart oder halbtrocken. Erst Wohlstand sorgt für Mäßigung, selbst in Rußland.
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