: "Blavatzkys Kinder" - Teil 22 (Krimi)
Teil 22
„Vor einem Jahr sind wir auf eine merkwürdige Sache gestoßen. Es war ein wunderschöner Tag. Wir waren schon einige Stunden unterwegs und lagen in der Sonne auf einer Wiese, von der aus wir weit ins Tal sehen konnten. Vor uns lag die tschechische Grenze. Rolf starrte dauernd in eine bestimmte Richtung. Wir dachten, daß er Rehe beobachtet. Dann sagte er ganz aufgeregt: ,Da sind Menschen, die sich durch den Wald schleichen. Offensichtlich Flüchtlinge, die die deutsch-tschechische Grenze überquert haben. Illegale.‘“
„Wo war das?“
„Ein paar Kilometer südlich von der Bundesstraße 14, die zur Grenze nach Tschechien führt“, antwortete Lisa, eine etwa dreißigjährige, sportliche Frau mit kurzem blondem Haar und lebendigen braunen Augen.
„Etwas war sonderbar“, erinnerte sich Max.
„Die Flüchtlinge liefen nach links, und viel weiter rechts sahen wir Bundesgrenzschutz. Einer ihrer Hunde hatte die Spur aufgenommen und dann wieder verloren. Wir saßen auf einer Anhöhe wie Zuschauer in einem Theater. Die Grenzer zogen nach rechts ab, die Flüchtlinge nach links“, erzählte Rolf.
„Wir waren neugierig bis zum Kragen. Wir wollten sie nicht erschrecken, aber wissen, wohin sie gingen. Also sind wir hinterhergeschlichen. Wir sind parallel zu ihnen gelaufen, etwas versetzt oben am Berg, so daß wir sie immer wieder sehen konnten. Dann waren sie ganz verschwunden, und wir rannten den Hang hinunter, bis wir sie wiedergefunden hatten. Nach einigen hundert Metern entdeckten wir einen schwarzen Lieferwagen auf einem einsamen Waldparkplatz. Dahin gingen die Flüchtlinge. Es waren sicher ein Dutzend Menschen, mehr als die Hälfte Kinder. Merkwürdig war, daß die Menschen sich auf den Boden des Lieferwagens legen mußten.“
„Meistens fliehen Männer. Frauen mit Kindern schaffen die langen und gefährlichen Fluchtwege nicht so leicht. Aber in dieser Gruppe gab es acht oder neun Kinder, drei davon waren so klein, daß sie getragen werden mußten. Die anderen waren im Alter von Schulkindern“, sagte Max. „Nur ein einziger Mann schien die Gruppe anzuführen, ein zweiter und ein dritter Mann erwartete die Flüchtlinge am Auto.“
Eine Woche später waren sie noch einmal zurückgekehrt und hatten die Route abgesucht. Vergeblich. Weitere drei Wochen später hatten sie den Wagen wieder gesehen, ohne zu erkennen, ob er Menschen beförderte. Aber vor wenigen Wochen war ihnen wieder eine Gruppe Flüchtlinge fast vor die Füße gelaufen. In der Nähe einer Lichtung hatten sie sie entdeckt, waren wohl auch von ihnen gesehen worden, denn plötzlich wurde es still, als ob sich alle Menschen ins Laub geworfen hätten. Sie waren dann auf einem Wanderweg weitergegangen, hatten geredet und gelacht, als ob sie nichts bemerkt hätten. Nach etwa fünfhundert Metern schlugen sie sich quer durch den Wald steil bergauf und dann hinunter in einer spitzen Kurve, um den Flüchtlingen in sicherer Entfernung den Weg abzuschneiden.
„Wir dachten, wir hätten sie verloren. Dann sah Lisa einen Mann in einer braunen Lederjacke, der offensichtlich gerade gepinkelt hatte und ein Stück hinter der Gruppe herlief.“
„Nach einer langen Weile erreichten die neun Menschen einen Weg. Da parkte wieder dieser schwarze Lieferwagen. Aber bevor die Frauen und die Kinder diesmal in den Laderaum stiegen, gab es einen Riesenkrach“, fuhr Lisa fort. „Eine der Frauen wollte nicht einsteigen. Sie schrie den Mann in der braunen Lederjacke an und zerrte an seiner Jacke. Er hielt die Jacke mit beiden Händen zu.“ Lisa schüttelte den Kopf. „Die Frau ließ nicht locker. Ein anderer Mann wollte sie ins Auto zerren. Da hat sie sich einfach auf den Boden fallen lassen. Sie schrie. Was dann geschah, war merkwürdig. Der Mann öffnete seine Jacke. Er nahm ein Bündel heraus, das in Stoff gewickelt war, und reichte es der Frau. Sie richtete sich auf, kniete und berührte das Bündel sanft mit beiden Händen. Dann sank sie zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Einen Moment war es unheimlich still. Irgendwo keckerte ein Vogel. Die Frau weinte und stieg ohne weiteren Widerstand in das Auto. Der Fahrer des Wagens warf die Seitentür zu und gab dem Mann aus dem Fahrerhaus einen kurzen Spaten, mit dem der das Bündel ein paar Meter entfernt vergrub. Dann stritten der Fahrer und der Mann.“
„Wir hörten Worte wie ,Verschwendung‘ und ,Dummheit‘ und ,Ärger kriegen‘. Der andere brüllte ,Halt's Maul!‘“
Diesmal waren sie besser vorbereitet. Sie hatten ein zweites Auto fast einen Kilometer vor dem Parkplatz im Wald versteckt, Lena und Tobias warteten dort. Es gab keinen anderen Weg, und der schwarze Wagen mußte an ihnen vorbei.
Lena erfuhr per Funk, daß der schwarze Wagen losgefahren war und gleich in ihre Nähe kam. Sie fuhr drei Kilometer weiter, blieb an der Abfahrt eines Forstweges stehen und fuhr langsam an, kurz bevor der schwarze Wagen auftauchte. Für den Fahrer des schwarzen Wagens schien sie zufällig aus einem Waldweg zu kommen, der zu einer Schutzhütte führte. Unverdächtig. Wie verabredet trödelte Lena so sehr, daß der Lieferwagen sie überholen mußte.
Sie folgten dem Lieferwagen so lange, bis er auf die Landstraße einbog und eine Zeitlang geradeaus fahren mußte. Lena fuhr an den Straßenrand und stieg zu Max und den anderen ins Auto. Nach wenigen Minuten schlossen sie langsam zu dem Lieferwagen auf. Nach rund zwanzig Kilometern bremste der verfolgte Wagen plötzlich scharf und bog spitzwinklig in einen Feldweg ab, den sie übersehen hatten. Sie waren zu dicht hinter ihm. Wären sie ihm jetzt mit quietschenden Reifen gefolgt, hätten sie sich verraten.
Fortsetzung folgt
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