Zufriedenheit im Chaos

■ Umfrage in Mitte: Die Menschen sind grundsätzlich optimistisch, aber Bau- und Verkehrschaos nerven. Der Regierungsumzug wird die Preise hochtreiben, aber Mitte werde dann auch "feiner"

Trotz Baukränen vor dem Balkon und Diplomatenschlitten zwischen den Shoppingzeilen sind die OstberlinerInnen aus dem Bezirk Mitte in Aufbruchstimmung. Überwiegend sehen sie der Zukunft optimistisch und zufrieden ins Auge, sind aber genervt vom Chaos der Baustellen und des Verkehrs und befürchten die Verdrängung der angestammten Ossis durch die Politgrößen aus Bonn.

Das jedenfalls ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung mit 615 Befragten in Mitte, die die Deutsche Paul-Lazarsfeld- Gesellschaft in Berlin beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag gegeben hat. „Befindlichkeiten, Sorgen und Ängste der Menschen“ sollten untersucht werden. „Der Bezirk Mitte hat sich laut den Ergebnissen ganz klar verbessert“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft, Manfred Güllner. Mehr als die Hälfte der Befragten seien dieser Ansicht. Nur ein Viertel der Zufallsbefragten meint, daß sich die Situation verschlechtert habe. Am deutlichsten vertreten die Unter-Dreißigjährigen die Zufriedenheit mit Mitte seit der Wende. Besonders gelobt werden die neuen Einkaufsmöglichkeiten und das Freizeitangebot. Das Leben sei „bunter und freier“ geworden, heißt es.

Scharf kritisiert wird nach Aussagen von Güllner das Chaos im Bezirk: Der dichte Verkehr und die Unordnung der Baustellen fallen den BürgerInnen auf den Wecker und stehen in der Problemliste noch vor der Wohnungsnot an der Spitze. Dabei seien die Mitte-BewohnerInnen weniger genervt, weil überhaupt gebaut werde, sondern weil „ohne Rücksicht auf die AnwohnerInnen“ gebaut werde.

Auch über den Bonner Regierungsumzug rümpfen die BerlinerInnen aus Mitte die Nase. Die Hälfte der Befragten befürchtet Nachteile: Miet- und Preissteigerungen, die Verdrängung der Bürger und ein noch größeres Verkehrschaos. Nur 22 Prozent meinen, daß der Umzug Vorteile schafft. Möglicherweise werde Mitte „schöner und feiner“ und erhalte zusätzliche Arbeitsplätze. Vielleicht wird auch die Bonner Politik in der neuen Hauptstadt besser, hoffen einige. Schließlich seien die Regierenden dann „mittendrin im Leben“ und nicht mehr so abgeschottet wie im Bonner Regierungsviertel.

Zum ersten Mal zeichne sich ab, daß der Unterschied zwischen der Einschätzung der eigenen Lage und der Lage anderer kleiner werde, sagte Güllner. Nach dem Prinzip der „video-malaise“, einer zu Negativmeldungen neigenden Medienberichterstattung, werde die eigene Lage häufig besser eingeschätzt als die allgemeine. 21 Prozent in Mitte meinen, es gehe ihnen persönlich schlechter als vor der Wende, 27 Prozent sind dieser Ansicht, wenn es um andere geht. „Üblicherweise ist dieser Unterschied viel größer“, meint Güllner. Nach den Ergebnissen könne von einer „Mauer in den Köpfen keine Rede mehr sein“.

„Miesmuffelig“ antworteten in der Telefonumfrage die LeserInnen der Zeitung Neues Deutschland. Nur ein Drittel von ihnen hält die Entwicklung seit dem Mauerfall für vorteilhaft. „Das ist der harte Kern ehemaliger SED-Mitglieder“, vermutet Manfred Güllner. Ähnlich skeptisch äußern sich auch WestberlinerInnen zum Mauerfall. Nur ein Fünftel kann eine Verbesserung der Lebenssituation feststellen. 34 Prozent meinen, es gehe ihnen schlechter als vor dem Mauerfall. Der Stamm der Alternativen um Vierzig habe seine Mauernische verloren und würde seitdem „verdrießlich an allem herumnörgeln“, erklärt Güllner. Silke Fokken