: Ohne Zwischenlandung direkt in den Himmel Von Ralf Sotscheck
Wer das Fegefeuer vermeiden möchte, muß dafür zu Lebzeiten leiden. Meine Schwiegermutter hat bereits sämtliche Vorkehrungen für ihre Direktreise in den Himmel getroffen. Annie gilt selbst im katholischen Irland als Fundamentalistin. Jeden Tag steht eine Messe auf dem Programm, am Sonntag sogar zwei – eine davon für die betfaulen Verstorbenen, um ihnen doch noch den Sprung aus der Hölle in den Himmel zu ermöglichen. Wer nicht getauft ist, kommt freilich nicht mal ins Fegefeuer. Aber auch in diesen Fällen hat Annie schon so manches Mal erfolgreich eingegriffen.
Nachdem sie durch Nachforschungen bei verräterischen Bekannten herausbekommen hatte, daß unsere Kinder nicht getauft waren, organisierte sie einen Pfaffen, der den Akt nachholen und die Taufe auf den Tag der Geburt rückdatieren würde – gegen ein entsprechendes Schmiergeld, versteht sich. Wer hätte gedacht, daß man den Allmächtigen durch die einfache Bescheinigung eines irischen Priesters übers Ohr hauen könnte? Unsere Ablehnung des Schummelangebots ließ Annie offenbar nicht ruhen: Als wir Jahre später einem Schwarzrock in der Stadt begegneten, meinte sie erfreut: „Ach, da ist ja der nette Pfarrer, der eure Kinder getauft hat.“ Nach einer Minute betretenen Schweigens plädierte sie zwar im Stile eines Politikers auf Gedächtnisverlust, doch das klang nicht sehr überzeugend.
Damit ihr keine Gelegenheit für eine gute Tat entgeht, läuft Annie mit stets wachsamem Auge durch Dublin. Manchmal verstehen die EmpfängerInnen der Mildtätigkeit diese Geste allerdings falsch. Einmal erspähte sie eine Bettlerin, die in einem Hauseingang eingeschlafen war und ihr erbetteltes Geld ringsherum verstreut hatte. Annie sammelte die Pennies ein und wollte sie der Frau vorsichtig in die Tasche stecken, um sie nicht zu wecken. Das ging schief: Die Bettlerin schreckte hoch und versetzte Annie einen Fausthieb, weil sie sie für eine Diebin hielt.
Aus dem blauen Auge hat Annie jedoch nichts gelernt. Neulich fand sie einen sturzbetrunkenen Mann bewußtlos im Rinnstein. Da es gerade zu regnen anfing, wollte Annie ihn unter einen Baum ziehen. Annie zerrte an der Hose, bis plötzlich der Gürtel nachgab und sie die Hose in der Hand hielt – doch es kam noch schlimmer: Der Suffkopp trug keine Unterhose. Was tun? So konnte sie ihn nicht dort liegen lassen, weil das Anstiftung zum Exhibitionismus gewesen wäre. Also versuchte sie, ihm die Hose wieder anzuziehen, nicht ohne ihn aus Keuschheitsgründen erst einmal auf den Bauch zu wälzen.
Schon blieben die ersten Passanten stehen. „Was machen Sie denn mit dem armen Mann?“ fragte einer. „Er hat doch bloß ein bißchen zuviel getrunken und tut keiner Fliege etwas zuleide.“ Annie wurde immer hektischer, bis sich ein Polizist den Weg durch die inzwischen beachtliche Menschenmenge bahnte, wo bereits Wetten auf den Erfolg der Bekleidungsaktion abgeschlossen wurden. Als sich der uniformierte Beamte bei ihr erkundigte, was sie mit der Hose vorhabe, verlor Annie die Nerven und ergriff Hals über Kopf die Flucht. Seitdem ist sie mit ungebetenen Hilfeleistungen etwas vorsichtiger. Das Direktticket in den Himmel ist ihr dennoch sicher, davon bin ich überzeugt.
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