piwik no script img

Ganz der alte arrogante Griesgram

Peter Stein inszenierte für die Salzburger Festspiele „Antonius und Cleopatra“ und „Der Kirschgarten“ neu  ■ Von Sigrid Löffler

Wer wissen möchte, was der Regisseur Peter Stein heute zu bieten hat, im besten und im problematischsten Falle, der sollte in Salzburg nachschauen. Dort zeigt der Schauspiel-Chef der Festspiele in diesem Sommer zwei seiner Produktionen, die man von früher schon zu kennen meint und die dennoch keineswegs ein simples Recycling darstellen – Tschechows „Kirschgarten“ (auf Basis der Schaubühnen-Produktion von 1989) und Shakespeares „Antonius und Cleopatra“ (eine Wiederaufnahme von den Festspielen '94).

Vor allem beim „Kirschgarten“ machte das schnöde Wort „Remake“ im voraus die ehrabschneiderische Runde – so, als wäre Peter Stein rein gar nichts mehr zuzutrauen als nur noch die Zweitverwertung der Regietriumphe von einst, nunmehr in Salzburg wohlfeil verhökert an ein kritikloses Festspiel-Publikum. Aber vielleicht entsprangen solche Abschätzigkeiten im Feuilleton auch nur einem Sinn für Dramaturgie: Wen man jahrelang niedergeschrieben hat, den kann man um so wirkungsvoller wieder hochschreiben. „Eine Auferstehung“ nennt das dann die Kritik. Zumal außerdem die Versuchung nahelag, Peter Stein at his best („Kirschgarten“) und at his worst (der im Vorjahr von der Kritik vernichtete Shakespeare) gegeneinander auszuspielen.

Es ist ja kein Zufall, daß Peter Stein und Peter Zadek, die ewigen Antipoden des deutschen Theaters – beide bewandert in mancherlei Exilen, beide als Intendanten erfahrene Scheiterer, die ihre verspielten Theater-Fürstentümer wie Prunkschleppen durch ihre Biographien ziehen –, sich fast gleichzeitig für dasselbe Stück zu interessieren begannen. Genauer gesagt, für eine Theaterfigur, die all dies verkörpert: den großen Fürsten und Machthaber, den Gescheiterten, den Mann im Exil, der ein Imperium verspielt, verschleudert, verwirkt hat und seinen Weltruhm hinter sich herschleift, weltmüde – Shakespeares Antonius, Feldherr, Triumvir, Imperator.

Und doch sind konträrere Lesarten der Römer-Tragödie kaum vorstellbar, als sie Zadek beim Berliner Ensemble und Stein in Salzburg bietet. „Antonius und Cleopatra“ ist ein maßloses Stück und ein Stück über die Maßlosigkeit. Es handelt von der Verschwendung und ist selbst ein überschießendes Stück Verschwendung. Zadek nahm die Maßlosigkeit als Maßstab: Er schickte zwei maßlose Leute auf Erkundungsreise in den erotischen Exzeß, in die Selbstverschwendung. Ganz anders Stein. Der kann und will an der Maßlosigkeit nicht Maß nehmen: Die Verschwendung reizt ihn nicht als Exzeß – sie irritiert ihn als Vergeudung. Und mit Exzessen hat Stein erst recht nichts im Sinne, allenfalls mit Exzessen der fanatischen Präzision. Er ist ein Klassizist (geworden), ein Meister der Bändigung, nicht der Auflösung.

Seine Lesart des Stückes geht – das zeigt schon die Besetzung mit Edith Clever und Hans Michael Rehberg – von einem altgewordenen Paar aus. Antonius und Cleopatra – das war vieleicht das berühmteste, sicher aber das skandalöseste Liebespaar der Alten Welt. Schon zu Lebzeiten waren die beiden ein Mythos. Festgemacht in Überlebensgröße. Sie: die ägyptische Schlange. Er: der große römische Feldherr und Imperator. Shakespeares Stück handelt auch davon, wie zwei alternde Liebesleute sich mit der Last ihrer Berühmtheit abquälen, wie ein grauer Kriegsmann und eine ehemalige Schönheitskönigin sich damit herumschlagen, ihrem eigenen Mythos gerecht zu werden. Was Stein inszenierte, war ebendiese Differenz – der herzzerreißende, der peinliche, der tragikomische Widerspruch zwischen dem Mythos und der Realität, der Unterschied zwischen Anspruch und Augenschein.

Eine heikle Lesart, die den Schauspielern den Mut abverlangt, sich bloßzustellen und die permanente Enttäuschung mitzuspielen, die sie dem Publikum bereiten. Ihre (unbedankte) Kunst muß darin liegen, an die sagenhaften Phantasiebilder von sich selbst ständig nicht heranzureichen. Sie müssen gegen ihren eigenen Image-Glanz anspielen und sich dauernd von ihm verdunkeln lassen. Höchstens momentweise dürfen Ahnungen ihrer Fabelhaftigkeit aufblitzen.

Anzukämpfen gegen den eigenen vergangenen Ruhm – in diesem Genre ist die Clever große, exaltierte Klasse. Was diese Cleopatra auch unternimmt, es wird eine meisterhafte Szene draus. Eine grandios berechnende Hysterikerin kalkuliert ihre hochstilisierten Ausbrüche und singt ihre großen Arien. Mit Clevers Kunstfertigkeit (und Künstlichkeit) kann Rehberg als Antonius nicht ganz mithalten. Er spielt den alten Raufbold als Biedermann, nicht als Weltbrandstifter, und erliegt des öfteren der größten Gefahr, die in Steins Regiekonzept lauert: das Versagen vor dem eigenen Mythos nicht auszustellen, sondern vor dem Mythos schlicht zu versagen.

So geriet Cleopatras Selbstmord zum Höhepunkt einer (im übrigen, trotz Straffungen gegenüber 1994, immer noch trutzig-steifen) Veranstaltung: Die Clever setzte ihn in Szene als hochbewußtes und denkwürdiges Spektakel für die Nachwelt. Als Cleopatras Todeszeremonienmeister, und nur da, zeigte sich Peter Stein ganz auf der Höhe ihrer – und seiner – Kunst.

Anders beim „Kirschgarten“. Der erwies sich – allem Remake- Gerede zum Trotz – als einhelliger Triumph, als erste unangefochtene Erfolgsproduktion Steins in Salzburg. Er hat seine Schaubühnen- Inszenierung nicht nur weitergedacht und weiterentwickelt, er hat sie entscheidend umgewichtet und umgeschichtet – sie ist heute mehr Farce und Vaudeville denn Abschiedssymphonie und Untergangskantate. Da herrschte kein Adagio cantabile e molto espressivo der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, sondern ein grimmiges Allegretto agitato mit burlesken Schlenkern und schrillen Pointen. Vom sympathisierenden, wenn auch nicht vorbehaltlosen Bedauern für die abdankende Herrenschicht und ihr großes Gefühlstheater ist Stein deutlicher abgerückt, ohne sich deshalb mit dem Aufsteiger, Aufkäufer, Parzellierer und Profiteur Lopachin gemein zu machen.

1989 war Steins „Kirschgarten“ ein kostbares Stilleben, geradezu mit Trompe-l'÷il-Fanatismus, in Eins-zu-eins-Realismus, inszeniert. Am Salzburger Landestheater und dessen beengten Bühnenverhältnissen ließ Stein seinen Bühnenbildner (nunmehr Karl- Ernst Herrmann) nicht mehr kulinarische Illusionsräume bauen, sondern einen kargen Bretterboden vor einen Rundhorizont legen: dieser „Kirschgarten“ spielte auf Theaterbrettern, nirgendwo sonst.

Vielleicht ist diese Rückkehr zu Tschechow am Ende tatsächlich so etwas wie eine künstlerische Neubesinnung des Regisseurs Stein, der sich zuletzt noch mit seinen Römer-Shakespeares auf der Cinemascope-Bühne der Felsenreitschule zu verlieren und seinem gefährlichen Hang zu einem monumentalen Klassizismus bis zur Erstarrung allen Bühnenlebens nachzugeben drohte. Vielleicht ist er tatsächlich mit Tschechow wiederaufgelebt.

Für die beiden noch verbleibenden Festspielsommer unter seiner Sprechtheater-Leitung hat er sich vier Regiearbeiten reserviert: einen Raimund („Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ mit Helmut Lohner und Otto Schenk), einen Schönberg („Moses und Aron“), einen Grillparzer („Libussa“) und einen Berg („Wozzeck“). Den „Sommernachtstraum“, mit dem er anfangs liebäugelte, hat er für 1996 an Leander Haußmann abgegeben. Vor einem weiteren Felsenreitschul-Shakespeare hat Stein nach all den mörderischen Verrissen also gekniffen, vor dem „Jedermann“ hat er kapituliert, vor dem Salzburger Lokalgeist (oder Lokal-Ungeist) in der Dreifaltigkeit von Raimund- Schenk-Lohner hat er klein beigegeben.

Als Stein 1992 in Salzburg antrat, mit dem Reform-Direktorium Gérard Mortiers, da führte er eine „Jedermann“-Reform im Schilde. Kleinlaut hat er sie inzwischen weggelegt. Kein neuer Text, keine Neudeutung des alten. Peter Handke hat ihm das erhoffte neue Mysterienspiel für den Domplatz nicht geschrieben, alle bedeutenden Regisseure von Langhoff über Flimm bis Strehler haben sich Hofmannsthals Touristenbekehrungsspektakel verweigert, der Möglichkeit, an dessen Stelle den englischen „Everyman“, sagen wir in der Regie Peter Zadeks, aufzuführen, ist Stein nicht nähergetreten. Und selber mochte er schon gar nicht mit „Jedermann“ sein Renommee riskieren. Statt dessen hat er, mit einem neuen Jedermann (Gert Voss), alles beim alten gelassen. Ein Triumph der Kleinmut.

Als Stein in Salzburg antrat, kam er wie ein neuer Max Reinhardt. Ein Festspiel-Vater aller Salzburger. Ein Medien-Entertainer, der mit polyglottem Charme und trockenem Witz jede Pressekonferenz souverän kidnappte. Ein Impulsgeber, der dem vernachlässigten Schauspiel-Sektor neuen Schwung verlieh, junge Publikumsschichten anlockte und so Salzburgs künftige Festspiel- Klientel rekrutierte. Inzwischen scheint Stein die Lust am Festspielbetrieb verloren zu haben. Unübersehbar seit letztem Sommer seine Misanthropie und Unleidlichkeit. Ganz der alte arrogante Griesgram und morose Selbstzweifler, strapaziert er nicht nur die kollegiale Geduld seiner Partner im Direktorium, sondern gefährdet auch selber den Aufschwung, den er dem Sprechtheater seit 1992 beschert hat. Zwar will er den Festspielen als Opern- und Theaterregisseur auch in Zukunft zur Verfügung stehen. Völlig offen hingegen ist, ob Stein über 1997 hinaus Schauspiel-Chef in Salzburg bleiben (und ob man ihn haben) will oder ob er sich nicht eher seinem Lebensprojekt, dem siebenteiligen „Faust“, zuwendet. Wer weiß, vielleicht doch in Berlin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen