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Die Wiedergeburt des Körpers im Tic

Meg Stuart choreographiert unkontrolliert zitternde Beine und Alltagsmacken in „No one is watching“  ■ Von Kai Voigtländer

Erinnerung an eine Szene: Eigentlich längst vergessen, eines von tausend Fragmenten in der Flut alltäglicher Wahrnehmung, taucht sie wieder auf in der Begegnung mit der choreographischen Arbeit von Meg Stuart. Abends in der S-Bahn. Ein vollbesetzter Waggon, in dem ein Geräusch die Aufmerksamkeit der Passagiere okkupiert, ein heftiges Schlagen, ein rhythmisches Krachen, dessen Aggressivität peinigende Empfindungen auslöst. Ein Penner, nicht ansprechbar und delirierend, schlägt seinen Hinterkopf in stumpfem Autismus gegen die hölzerne Trennwand hinter seinem Sitz. Immer wieder, mit unverminderter Heftigkeit, während sich auf der Wand hinter ihm ein roter Fleck ausbreitet. Keiner sieht hin, und doch beobachten alle fassungslos und gelähmt die präzise Geste der Selbstzerstörung, den Rhythmus, in dem Schädelknochen und Holz aufeinandertreffen. Irgendwann greift jemand ein, mit Gewalt müssen zwei Leute den Kopf des Mannes festhalten, der in unbewachten Momenten sofort wieder nach hinten schlägt. Meg Stuarts Arbeiten rufen solche halbvergessenen Bilder zurück an die Oberfläche.

„She always thought of her life as a movie no one is watching“ – so beginnt ein Text der 30jährigen Tänzerin und Choreographin. „No one is watching.“ Keiner sieht zu – das ist Thema und Ausgangspunkt ihrer neuesten Produktion, die sie mit ihrer Compagnie Damaged Goods als „artists in residence“ für das diesjährige Hamburger Sommertheaterfestival realisiert hat. „No one is watching“ – das ist eine Forschungsreise in die Gesten der Intimität, in die Körpersprachen des privaten Lebens. Unkontrolliert zittert und vibriert ein Bein, losgelöst vom Rest des Körpers. Manisch streicht eine Frauenhand die Haare hinter die Ohren, wieder und wieder, fester und fester, mit der Intensität eines Rituals. Ein Mann reißt Weißbrotscheiben auseinander, pfeift nach einem Vogel, und wie vom Körper abgetrennt wirft die Hand das Brot ins Leere.

Immer wieder, immer zwanghafter: die Geburt eines Tics aus der alltäglichen Gebärde. Meg Stuart zerlegt die automatischen, die unbewußten Gesten des Alltags in ihre Einzelteile, isoliert Körperteile gegeneinander, fixiert Bewegungen, friert sie ein und schickt sie in die Endlosschleife. Eine filmische Struktur des Sehens, sagt sie. Nahaufnahmen, Details, eine Totale, immer wieder Details. Zeitlupe, Wiederholung, Ritardando. „He played all the part fast forward rewind zoom zoom zoom“, schreibt die Choreographin. Manchmal entstehen kleine Geschichten, narrative Inseln im Fluß der Wahrnehmungsfetzen: Während die anderen Tänzer selbstvergessen ihre Dramaturgie entwickeln, wühlt Meg Stuart hektisch in einer Plastiktüte, zerrt Kleider ans Licht, hält sie sich vor den Körper, rennt vor den Spiegel, betrachtet sich, wühlt andere Kleider hervor, betrachtet sich, rennt zurück zur Tüte: Modenschau einer bag lady. Der flämische Musiker Vincent Malstaf hat dazu eine Klangcollage aus Fetzen von Rauschen, Räuspern und Knistern komponiert. Jemand kratzt sich, geht im Zimmer auf und ab: der Sound der Intimität. Gesampelte Sprachbrocken, Pergolesis „Stabat mater“ und „oh, yeah, huh“ – die Stöhnsequenz aus einem Pornofilm. Ausschnitte aus dem Bewußtseinsstrom – als habe Malstaf kleine, empfindliche Mikrofone direkt unter der Schädelplatte der TänzerInnen befestigt.

„No one is watching“ – der zuschauende Blick schwankt zwischen Peinlichkeit und Faszination. Eigentlich will das keiner sehen, diese Entblößungen der Privatheit, das Kratzen und Zucken, die unbeherrschbaren Marotten, die sich zur epileptischen Raserei steigern. Und doch guckt jeder hin, wie es ja auch die Rolle des Zuschauers in diesem Spiel ist, angelockt durch Erwartungen und fixiert durch theatralische Konvention. Meg Stuart macht alle zu S-Bahn-Passagieren, zu Voyeuren der daily autistic opera.

Natürlich lädt sich diese Szenerie sofort mit den üblichen Metaphern auf: Entfremdung, Isolation, Beziehungsunfähigkeit, die Monade Mensch, geworfen in des Daseins Kälte. Aber vielleicht verstellt diese reflexhafte Einsortierung auch den Blick auf das, was Meg Stuart eigentlich in Szene setzt: eine sehr genaue, sehr viel Konzentration fordernde Untersuchung über das Sprach- und Bildpotential des alltäglichen Körpers. Ist er Heimat für ein Selbst, Ausdrucksorgan eines bestimmten Menschen? Oder nur ein Gefäß für unstrukturierte Erfahrungsfragmente, eine vollgestopfte memory box, die simultan unverbundene Vergangenheitsschnipsel an die Oberfläche spült – einen Schmerz, einen Satz, eine Berührung, eine Geste, die ein Gefühl tiefgefroren aufbewahrt?

Zum Trost – oder zum Hohn – thront im Bühnenhintergrund buddhagleich eine sehr dicke, sehr nackte Frau, die dem Publikum den Rücken zuwendet und gelassen-unbeweglich ihre Fettringe ausbreitet. Nur der vollkommen ruhende Körper bietet ein klares, stabiles Bild. Bewegung aber bedeutet Zersplitterung, Spaltung, Schizophrenie.

Ein Tänzer sitzt am Rand einer kleinen Wasserlache, nackt bis auf ein Tuch um die Lenden. Eine Frau nähert sich ihm, nimmt eine Schale und reinigt den Körper – mit Milch, die weiß über Brust, Arme und Beine rinnt. Wie eine Katze versucht der Mann, sich abzulecken. Eine Pietà-Variation, eine Sehnsucht: einmal noch unbeschriebenes Blatt sein können, die Fixierungen verflüssigen und die Zeichen auflösen dürfen.

Meg Stuart/Damaged Goods: „No one is watching“. 17., 18. und 19. 8. am Hebbel Theater, Berlin; 29., 30. und 31. 8. Rote Fabrik, Zürich.

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