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Exil bei „Faust“ und Mücken

In einem abgewetzten Koffer verstauen sie Bücher, ein weißes Hemd, Brot und Wein. Dann nehmen sie die Räder und fahren hinaus zu ihrer Fichte: noch fünfzehn Meter bis ins Baumhaus  ■ Aus Gilching Thorsten Schmitz

Vielleicht aus Neid, vielleicht aus echter Sorge hält Bernhard seinen Bruder Rainer für größenwahnsinnig. Für bekloppt. Bernhard begreift nicht, daß man sich freiwillig in Lebensgefahr bringt. Rainer, der mit Bruder und Vater in der Sägewerkstraße im oberbayrischen Gilching lebt, macht das seit vier Jahren schon – zusammen mit Ingo, seinem Busenfreund aus der Nachbarschaft.

Beide leben noch immer.

Wenn Rainer, 20, und Ingo, 19, die Sehnsucht erfaßt nach Stille oder der Frust über die Welt, wie sie ist, packen sie einen abgestoßenen Koffer aus vorsintflutlicher Ära. Darin verstauen sie weltliche Genüsse: Wer gefährlich lebt, soll nicht hungern.

Fünf Käsesorten mindestens, im wurstorientierten Bayern eine mittlere Sensation, sowie Cidre, Rotwein und Bier aus diesen mittelalterlichen Schnappverschlußflaschen. Kronkorken kommen nicht in Frage, darauf besteht Ingo, das wäre stillos. Er hat ja recht. In den Koffer legt er jedesmal außerdem, fein gefaltet, sein schwarzes Sakko, ohne das tut Ingo keinen Schritt. „Das ist mein zweites Zuhause.“ Und fast immer trägt er ein weißes Hemd, weil das „klar“ aussieht.

Seit fünf Jahren nun schon beamen sich die beiden „Enterprise“-Fans mehrmals die Woche in ihr freiwillig gewähltes Exil. Das heißt, sie würden sich gerne in die Birkenwaldlichtung beamen, wenn das ginge. Solange aber die Welt des Mr. Spock nur auf RTL existiert, fahren sie mit den Rädern die Dreiviertelstunde bis an den Fuß einer Fichte. Ihrer Fichte. Der Trip von der einen in die andere Welt mit dem Rad ist ein Muß, das Auto tabu. Ins Auto setzen und im Wald aussteigen – Rainer und Ingo sind doch keine Sonntagsspaziergänger!

Von Ast zu Ast erklimmen sie die 15 Meter hohe Fichte im Birkenhain, bis die Hände voller Harz und sie am Ziel sind – dem Baumhaus, das strenggenommen gar keines ist. Lassen die Füße baumeln oder sich vom Wind in Trance streicheln. In solchen Momenten ist ihre Freiheit grenzenlos.

In wochenlanger Feinarbeit haben die beiden um den Stamm herum ein Plateau aus gekauften und geklauten Holzbrettern errichtet, das Panorama hat Zugspitzenklasse. Nur nicht dessen Terrasse. Wenn Ingo und Rainer und noch ein Gast sich niederlassen, ist das Sonnendeck im 100jährigen Fichtenwipfel voll. Gleich nebendran die Hütte mit Bambusdach, groß wie für Hirtenhunde. Anderthalb Meter breit und hoch und zwei Meter lang. Im Winter soll es darin sogar warm sein, weil die Fenster und Holzwände isoliert sind. Die Hütte ist so stabil in die Spitze der Fichte gefügt, daß noch nicht mal Stürme, Hagelschauer oder Schnee dem Baumhaus was anhaben konnten. Einmal haben die beiden für drei Wochen hier oben gelebt, nur zum Duschen und Wäschetausch sind sie in ihre Einfamilienhäuser nach Gilching gefahren. Gut lernen fürs Abitur ließ es sich hier, wo einen niemand findet und niemand vermutet. In Goethes „Faust“ schmökern, in der „Geschichte der griechischen Philosophie“ oder in amerikanischen Comics. Abends köchelten die zwei Hobbyabenteurer auf kleiner Spirituskocherflamme Spaghetti mit Thunfischsoße, Spaghetti mit Hackfleischsoße oder Spaghetti mit Käsesoße, Ingos Lieblingsspaghettisoße.

Die acht mietfreien Quadratmeter Höhenluftkurort sind kein Gemein-, sie sind ein Geheimplatz. Nur ausgewählte Freunde und Freundinnen erhalten ein Tagesvisum. „Wir wollen keinen ungebetenen Besuch“, sagt Ingo, das würde die Idylle trüben. Ein Klassenkamerad, sagt Rainer, „hat bei sich zu Hause nur auf dem Klo Ruhe vor seiner Mutter“. Soweit wollen es die beiden erst gar nicht kommen lassen.

Und überhaupt trauen sich nur die wenigsten die Kraxeltour zu. Großmäulig melden die Besucher Interesse an, und wenn sie dann vor der Fichte stehen, den Kopf im 90-Grad-Winkel, kriegen die meisten Muffensausen. Bernhard zum Beispiel, er war noch nie oben.

Gilching döst im wüstenheißen Sommerschlaf, genau die richtige Zeit. Ingo und Rainer radeln an diesem Donnerstag zum erstenmal nach über einer Woche wieder in ihr zeitlich befristetes Exil. Es kommt vor, daß keiner der beiden Zeit hat, obwohl ihrer Beobachtung nach so was eigentlich nur gestreßten Großstädtern passiert.

Sie könnten auch blind klettern, so flink hangeln sie sich die sattsam bekannten Astpositionen hinauf. Vom bemoosten Boden springen sie zum ersten Holzhenkel, ziehen sich mit den Armen rauf und stützen sich dabei mit den Füßen am Baumstamm ab. Wie Affen ducken sich die zwei durchs Geäst, Ingo schwitzt mehr als Rainer, obwohl er diesmal nicht den Koffer trägt. Oben angekommen, fläzen sie sich erst mal der Länge nach hin. Tun nichts. Genießen die Unerreichbarkeit und die zeitlose Einöde aus vollen Zügen. Wie kann man nur in Großstädten leben, fragen sie sich. Wo es jetzt heiß und immer hektisch ist und nur in U-Bahn- Schächten kühl.

„Es ist schon schwierig, im Urlaub was Schöneres zu finden als dieses Baumhaus“, hat Ingo herausgefunden und läßt seine Füße von der Veranda hängen. Ihm stehen sechs Wochen Schweden bevor, und er zerbricht sich den Kopf, wie er Rotwein nach Skandinavien schmuggeln soll, ohne erwischt zu werden. Rainer war gerade zehn Tage in Italien, bevor er jetzt als Zivildienstleistender beginnt, einen Autisten zu betreuen. Das Baumhaus hat er „vermißt“. Ob die beiden ihre Baumhaus-Affäre aufrechterhalten, wenn Rainer den Autisten begleitet und Ingo irgendwann irgendwas studiert – darüber reden sie nicht, warum auch.

Seit der 6. Klasse pflegen sie eine dieser rar gewordenen Freundschaften, bei denen man sich täglich sieht und doch kein Anöden aufkommt. Sie gucken „Raumschiff Enterprise“ oder kopieren „Depeche Mode“, mit einem Synthesizer und Ingos Stimme. Sitzen vor voll aufgedrehten Boxen in den Wohnzimmern ihrer Eltern, trinken bitterschwarzen Kaffee und tauchen tiefernst ab in ihre selbstgeschaffene Klangwelt aus mittelalterlichem Minnesang und Mainstream-Melodien. „Wir wollen berühmt werden damit“, sagt Ingo. Er meint das ganz ernst. Leider fahren noch nicht mal die Raver aus dem ortsansässigen Jugendclub auf ihre Musik ab.

Ein Segelflugzeug zieht lautlos seine Runden unter den anthrazitfarbenen Gewitterwolken, ein Bauer erntet Heu, und ganz weit weg sieht man im Wörthsee kleine weiße Punkte: schwimmende Urlauber. Diese Wohnwagenmenschen finden Rainer und ganz besonders Ingo entsetzlich. „Ich weiß genau, wie deren Urlaub verläuft: fürchterlich.“ Das seien Großstadtmenschen, die noch nicht mal im Urlaub ziellos den Tag verplempern. Die nie durch ein Moor laufen könnten, nur um durch ein Moor zu laufen, einfach so.

Darauf einen Schluck Rotwein oder auch zwei, eine Ecke Roquefort vom Schweizer Taschenmesser, ein Stück italienisches Weißbrot. Mit zugepetzten Augen in den Himmel gucken und verfolgen, wie ein heißer Sommertag zum Jahrhundertgewitter mutiert. Die Baumhausterrasse schaukelt sacht wie eine Schaluppe im Hafen. Millionen von kleinen Fliegen und Mücken schwirren um die beiden frischgebackenen Abiturienten (Rainers Durchschnitt: 1,5; Ingos: 2,4), aber das juckt sie nicht. In den Jahren haben sie sich mit den Viechern arrangiert – und eine wissenschaftlich womöglich nicht haltbare Entdeckung gemacht: „In letzter Zeit sind es immer mehr geworden.“

Irgendwie und irgendwann hat es sich ergeben, daß Ingo und Rainer auch auf Bestellung Baumhäuser zusammenschrauben. Inzwischen sind es zehn, republikweit. „Das sind keine Ökos, sondern Leute, die den Sonnenuntergang genießen wollen“, sagt Ingo, der Poet. Rainer ist für die Technik zuständig. Es macht viel mehr Spaß, eine Schraube „gut reinzuknallen“, als einen Baum zuzunageln. „Das ist häßlich“, findet Rainer. Ingo auch.

Gerade bauen sie ein Baumhaus für einen Mathelehrer in 17 Meter Höhe. Um Erlaubnis gefragt haben sie niemanden, eines Tages aber kam der Förster und sagte, wenn der Baum am Baumhaus zugrunde geht, müßten sie den Holzwert blechen.

„Wir haben einen Baumhausblick“, sagt Ingo, und meint damit die Fähigkeit, innerhalb von Sekunden entscheiden zu können, welcher Baum ein Baumhaus verträgt – und welcher nicht. Ist der richtige Baum gefunden, wird er mit einem Gedicht getauft von Henry David Thoreau. Und dort, wo das Baumhaus einmal installiert sein soll, schlagen sie eine Kerbe in den Stamm und gießen Rotwein hinein. Um Waldgeister und Baumnymphen zu besänftigen.

Viel Geld verdienen die beiden dabei nicht, behaupten sie. Der Mathelehrer kriegt es für 1.000 Mark, der Musikstudent auch, aber den Familienvater, der seinen Kindern eine große Freude im hauseigenen Garten bereiten wollte, „den haben wir gut ausgenommen“. 2.500 Mark mußte er löhnen für ein „eher schlechtes“ Baumhaus. Weil er Ingo und Rainer nicht besonders sympathisch war.

Die Idee zum Baumhausbau haben Ingo und Rainer vier Frauen zu verdanken. Vor fünf Jahren war Ingo mit Kathrin und Rainer mit Grit zusammen gewesen – beide Frauen gaben beiden Männern zum gleichen Zeitpunkt den Laufpaß, so was soll vorkommen.

„To get rid of slimy girls“ ist das Lieblingsmotto einer amerikanischen Comicmaus, die hierfür auf ein Baumhaus flüchtet. Ingo und Rainer lieben diesen Comic, tausendmal durchgeblättert liegt er noch immer zwischen „Faust“ und „Griechischer Philosophie“. Zwei weitere Frauen haben ihr Exil erst ermöglicht: Vivienne und Wibke, zwei sogenannte orkanartige Stürme, die im Gilchinger Forst die Bäume zum Umknicken brachten. Die Bauern waren froh, daß da zwei Typen ihr Holz haben wollten – mit dem ja doch nichts mehr anzufangen war.

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