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Am Schiß des Teufels

■ taz-Heimatkunde (6): das unentdeckte und mißverstandene Worpswede/ Unveröffentliches über ein umgekehrtes Bermuda-Dreieck, ein Fahrradklo und die internationale Freeclimber-Szene

Robbelrobbelrobbel. Wer Ohren hat zu hören, hört in Worpswede das Geräusch von auf Katzenkopfpflaster abrollenden Mercedesreifen, ein dumpfes Grollen, das zeitweilig das Schlagen der Finken und das Schmatzen der Pferde im Stall überdeckt. Der schwere süße Geruch von geöffneten Maissilagen liegt über dem Moordorf. O nein: Die Bauern sind hier nicht arm. Am 54,40 Meter hohen Weyerberg ziehen sich prosperierende Maisfelder die Hänge hoch. Wohlgenährte Worpsweder Kinder hüpfen über Zäune, springen über Wiesen und fallen vom Pferd. Auf dem Friedhof jede Menge bekannter Namen: Müller, Meier, Stelljes. Wo, wenn nicht hier, könnte man zur Ruhe kommen?

Doch das Dorf hat ein Geheimnis. Die Dorfbewohner sprechen hinter vorgehaltener Hand von dem „umgekehrten Bermuda-Dreieck“. Möchte der Gast aber Genaueres wissen, verschließen sich die bäuerlichen Gesichter. Unter einem Vorwand verschwinden die Menschen in ihren mit Pferdeköpfen und frommen Frakturinschriften verzierten Häusern. „Es ist ein seltsames Land,“ dichtete Rilke, der das Dorf kannte. Er kam jedoch ebensowenig hinter das Geheimnis von Worpswede wie Manfred Hausmann, der nach einem Besuch in einem Etablissement namens „Sauna Club“ sein Befremden über den Ort durch den haßerfüllten Ausruf „Torfbauerngehirne!“ deutlich machte. Jüngst schwadronierte selbst Altkanzler Helmut Schmidt übers „seltsame Flimmern“ im Ort.

Wenn man früh aufsteht und durch die Gemarkung streift, begegnet einem vielleicht eine scheue Esoterikerin im Gestrüpp. Mit sehr viel Glück kann man sie bei der morgendlichen Klangmassage beobachten. Bisweilen stolpert man über im Freien übernachtende Jungmanager, die sich von Heuschrecken und wildem Honig ernähren. Zur frühen Morgenstunde trifft man sogar den überaus seltenen Sandfeger an, der auf sandigen Böden mit einem Rechen ausgestattet seine rituellen Tänze aufführt. Im Schlagschatten des kegelförmigen Weyerbergs, den der Legende nach der Teufel nach einem anstrengenden Ritt durchs „Teufels“moor dorthin „geschissen“ haben soll, liegt Worpswede wie eine Henne, die ihr Geheimnis bebrütet.

Niemand, der sich auf die Reise begibt, das Geheimnis Worpswedes zu ergründen, kommt an dem Namen Brandau vorbei. Man streunt ziellos, wie es dem Suchenden ohnehin zu empfehlen ist, durch den baumbestandenen Ort, staunt über ein gewaltiges Katzenklo, das als Fahrradunterstand gedacht und allgemein als „Fahrradklo“ bezeichnet wird, und begegnet einer Dame namens Schwake. Schon verstrickt man sich in ein Gespräch über aus dem Nest gefallene Jungvögel und den Vogelretter Brandau, der mit seinen Schützlingen redet wie der Hl. Franziskus.

Auf der Suche nach Brandau, den man an einer barfüßigen Lebensweise zu erkennen hofft, gerät man bald in eine Lokalität namens Café Central. Hier stößt man unverhofft auf Gerard Depardieu, wenn er nicht gerade im Turn- und Sportverein Fußball spielt. Auch eigenartige Männer mit Zöpfen, Hunde und sündige Frauen in transparenten Kleidern verkehren hier, wo man dem „seltsamen Flimmern“ (Schmidt) begegnet. Sieht man solche Figuren, hat man die Schwelle zum Wahn bereits überschritten. Hier, wo sonst, beginnt das Geheimnis des „umgekehrten Bermuda-Dreiecks“.

Das „umgekehrte Bermuda-Dreieck“ wird gebildet aus der Bergstraße, der Hemberg Straße und der Fin-dorffstraße. Wenn im Bermuda-Dreieck aus unerklärlichen Gründen Reisende und Abenteurer samt ihren Schiffen verschwinden, tauchen im „umgekehrten Bermuda-Dreieck“ aus unerklärlichen Gründen Massen von Reisenden samt ihren Automobilen und Bussen auf. Sie quirlen und drängeln durch die engen Dorfgäßchen, nehmen in großem Umfang Kuchen-stücke und Kaffeeportionen zu sich, erstehen käuflich minderwertige Porzellanelefanten (vgl. nebenstehenden Beitrag), um Punkt sechs abends wieder vom Bermuda-Dreieck verschluckt zu werden. Zurück bleiben wehende Zeitungsfetzen auf einem leeren Großparkplatz.

Fragt man einen der plötzlich Aufgetauchten, woher er komme, wohin er gehe, erhält man die überaus verblüffende Antwort: „Wir sind Freeclimber.“ Man muß schon einen der Freeclimber zum ortsüblichen Trunk, dem „Moorgeist“, einladen – dann hört man eine ergreifende Geschichte.

Vor langen Jahren geisterte in der internationalen Freeclimber-Szene das Gerücht, in Norddeutschland gäbe es einen sogenannten „Weyerberg“ von 5440 Metern Höhe. Seitdem ist Worpswede das Mekka der Freeclimber. Neuankömmlinge werden natürlich fürchterlich enttäuscht und stürzen sich frustriert auf minderwertige Porzellanelefanten und überladene Kuchenteller. Hartnäckige indes besteigen unverdrossen den um zwei Zehnerpotenzen überschätzten Berg und üben ihre Künste an einem backsteinernen Heldengedenkmal aus, das den Gipfel ziert.

Täglich muß das Gartenbauamt zerschmetterte Körper vom Fuße des sog. „Niedersachsensteins“ entfernen - Opfer eines Irrtums? Helden im Namen von Luis Trenker? Paradigmen unserer schnellebigen Zeit? Die wahren Worpsweder? Burkhard Straßmann

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