: Deutschlands Fürsorge für seine Verbrecher
Lettische SS-Veteranen erhalten heute noch Invalidenrenten, lettische Juden dagegen auch heute noch nichts. Während die Opfer der NS-Herrschaft allmählich sterben, profitieren die Mittäter vom deutschen Entschädigungssystem ■ Von John Goetz
Als ich in Lettland Geschichten über Nazi-Kollaborateure recherchierte, hörte ich häufig: „Grüß meine alten Frontkameraden!“ Für die SS- Veteranen in Lettland ist Deutschland nicht nur der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches.
Daß ihr ehemaliger Verbündeter dafür sorgt, daß sie Invalidenrenten erhalten, während ihre alten jüdischen Feinde leer ausgehen, bekräftigt sie in ihrer Überzeugung: Deutschland hat uns nicht vergessen. Wie ein Veteran sagte: „Wir danken der deutschen Regierung, daß sie uns nicht vergißt. Wir haben nicht gedacht, daß kommt mal solche Zeit.“ Es ist, als erinnerten sie sich voller Stolz, daß unter den besetzten Ländern Osteuropas nur Letten (und Esten) die Ehre genossen, straflos Geschlechtsverkehr mit Deutschen zu haben. Als über das Deutsche Fernsehen bekannt wurde, daß die deutsche Regierung die Verpflichtungen des Dritten Reiches übernommen hatte und osteuropäischen SS-Veteranen Invalidenrenten zahlte, gab es zwar zahlreiche Dementis aus verschiedenen Ämtern in Bonn, von Weizsäckers Büro über Süssmuths Büro bis zum Innenministerium. Aber die Geschichte war wasserdicht.
Was die Angelegenheit für die Bonner Bürokraten noch peinlicher machte, ist die Tatsache, daß die Invalidenrenten nicht nur an SS-Veteranen gezahlt werden, sondern daß auch keinerlei Nachprüfungen erfolgen, ob die Empfänger an Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt waren.
Das Versorgungsamt Ravensburg, das für die Auszahlung von Invalidenrenten an SS-Veteranen in Lettland zuständig ist, äußerte sich 1993 dazu ausdrücklich: „Nachweise über Kriegsverbrechen hätten auf die anerkannten oder noch zu entscheidenden Fälle keinen Einfluß.“ Im Falle der Zehntausende Letten, die in der SS kämpften, ist die Nachprüfung tatsächlich wichtig, weil viele Letten, die auf der Seite der Deutschen kämpften, an Kriegsverbrechen beteiligt waren.
Lettische Einheiten wurden von der Unterdrückung des Warschauer-Ghetto-Aufstands abgezogen, weil die Deutschen sie für zu brutal hielten. In den Wäldern von Rumbula und Bikernieki ermordeten Einheiten lettischer Polizeibataillone zusammen mit deutschen Truppen etwa 64.000 Juden. Ein SS-Veteran erzählte mir persönlich von seiner Dienstzeit in einem lettischen Polizeibataillon. Sie hätten Partisanen zusammengetrieben, um sie zu erschießen. Bonn leugnete die Geschichte zwar ab, erkannte aber auch, daß es keinerlei Möglichkeiten gibt, nachzuprüfen, ob jemand ein Kriegsverbrecher war oder nicht, und daß etwas getan werden mußte.
Deshalb erarbeitete die deutsche Regierung 48 Jahre nach Kriegsende ein Verfahren zur Überprüfung, ob Antragsteller auf (und Empfänger von) Invalidenrenten an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Aber statt dieses Verfahren auf alle Antragsteller und Empfänger anzuwenden, so daß jeder richtig überprüft würde, gilt die neue Bestimmung nur für Antragsteller von außerhalb Deutschlands. Einheimische Fälle werden nicht auf ihre Teilnahme an Kriegsverbrechen überprüft.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung verschickte dann einen Rundbrief an sämtliche Versorgungsämter mit der Anweisung, bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die nationalsozialistische Verbrechen verfolgt, nachprüfen zu lassen, ob die Namen der nicht in Deutschland lebenden Antragsteller in den Ludwigsburger Verzeichnissen erscheinen. Wenn der Name des Antragstellers auftaucht, muß das Versorgungsamt bei der zuständigen Staatsanwaltschaft nachforschen und daraufhin entscheiden, ob der Antragsteller die im Rundbrief festgelegten Voraussetzungen für eine Ablehnung erfüllt. Bei einer positiven Entscheidung wird die Invalidenrente verweigert. Der Rundbrief war in seinen Anforderungen präzise: „Die Teilnahme an solchen Verbrechen muß in jedem Einzelfall konkret nachgewiesen werden, z. B. durch ein in rechtsstaatlichem Verfahren ergangenes rechtskräftiges Urteil, andere beweiskräftige Unterlagen oder beweiskräftige Auskünfte ...“
Das Problem besteht nicht nur darin, daß in Deuschland lebende Antragsteller und Empfänger nicht überprüft werden, sondern auch darin, daß die Beweislage zugunsten des Antragstellers bewertet wird. Die Logik lautet, daß der Antragsteller die Invalidenrente erhält, wenn ihm nicht das Gegenteil nachgewiesen wird. Vielleicht ist das ein Grund, warum die SS- Veteranen das Gefühl haben, die deutsche Regierung sei ihnen zu Hilfe gekommen.
70.000 Juden lebten früher in Lettland, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 1.000. Von ihnen leben jetzt noch gut einhundert. Bei den wenigen dieser überlebenden Juden Lettlands lautet die Logik genau entgegengesetzt. Die Beweislast, daß sie berechtigt sind, liegt bei ihnen, und zahlreiche Briefe an deutsche Politiker haben sehr deutlich gemacht, daß sie es nicht sind. Als Rita Süssmuth einen Brief erhielt, in dem Entschädigung für die lettischen Überlebenden des Holocaust gefordert wird, antwortete ihr Amt: „Die Bundesregierung hat uns nach langer und sorgfältiger Prüfung mitgeteilt, daß aufgrund der gültigen Rechtslage eine solche Möglichkeit gegenwärtig leider nicht besteht.“
Ein Vertreter des Bundesministeriums für Finanzen wurde noch deutlicher. Das BmF argumentierte: „In den baltischen Staaten ist die Einrichtung einer eigenen Stiftung angesichts der geringen Opferzahl nicht zweckmäßig...“ (Bundesrat, Niederschrift, 672. In.20.0194).
Nach der deutschen Einheit wollte die Bundesregierung zunächst sogar nur Entschädigungen an Rußland, Polen die Ukraine und Weißrußland zahlen. Die baltischen Republiken wurden auf die Zuwendungen an Rußland verwiesen. Mittlerweile wurde den Regierungen in Wilnius, Riga und Tallinn eine Entschädigung von je zwei Millionen Mark angeboten. Während Litauen 50 Millionen Mark fordert, haben das estnische und das lettische Kabinett die deutschen Zahlungen akzeptiert. Die lettische Regierung denkt nun allerdings daran, aus diesem Topf nicht nur die jüdischen Opfer, sondern auch lettische Veteranen der Wehrmacht und der SS zu alimentieren. Das hat die Bundesregierung allerdings empört abgelehnt. Die Beweisführung für die Entschädigung der Opfer wird diesen selbst auferlegt, während die Invalidenrente für SS-Veteranen gewährt wird, solange niemand beweisen kann, daß sie an Kriegsverbrechen beteiligt waren.
1994 wurde das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung nach den genauen Kriterien befragt, die an die Gewährung von Invalidenrenten an SS-Veteranen angelegt werden. Wie man genau beweise, daß jemand an Kriegsverbrechen beteiligt war? Würde die Zugehörigkeit zu einer Einheit, die Verbrechen gegen die Menschheit beging, ausreichen, um jemandem die Invalidenrente zu verweigern?
Die Antwort des Ministeriums machte deutlich, daß neue Richtlinien für den Ausschluß von Antragstellern dem früheren Rundbrief widersprachen. Dieses Mal teilte das Ministerium mit, ein gerichtliches Urteil sei nicht nötig und der Zeitpunkt sei nicht ausschlaggebend, falls der Antragsteller an Kriegsverbrechen beteiligt war, sowie daß die Mitgliedschaft in einer belasteten Einheit ausreiche, um jemanden auszuschließen.
Bei einem Telefongespräch mit dem Leiter des Versorgungsamts Ravensburg (zuständig für lettische Antragsteller), Hans-Peter Gianmoena, wurde jedoch deutlich, daß diese neuen Richtlinien nicht eingehalten wurden. Es ist zweifelhaft, ob das Versorgungsamt Ravensburg die neuen Richtlinien, wie sie in dem Brief umrissen wurden, überhaupt erhalten hat. Gianmoena hat Mitglieder der Totenkopfverbände und KZ-Wachmannschaften automatisch ausgeschlossen, wie er im ersten Rundbrief angewiesen wurde. In der Zugehörigkeit zu Polizeibataillonen sieht Gianmoena jedoch keinen Grund zum Ausschluß. Angesichts der Tatsache, daß die meisten von Letten begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Angehörigen von Polizeibataillonen begangen wurden, scheint es besonders wichtig, daß diejenigen Bataillone, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren, ebenfalls ausgeschlossen werden. Aber Gianmoena sagte: „Ohne Straf- oder Ermittlungsverfahren hätte mein Amt keinen Grund, jemanden vom Leistungsanspruch auszuschließen.“
Während klar ist, daß nur Antragsteller außerhalb Deutschlands auf Kriegsverbrechen überprüft werden sollen, hat es jedoch nicht den Anschein, als ob das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auch nur diese minimalen Überprüfungen richtig durchführt.
Stichproben bei zwei weiteren Versorgungsämtern zeigten, daß die Richtlinien des Rundbriefs und des Briefes nicht eingehalten wurden. Der Rundbrief legte fest, daß bereits bewilligte Invalidenrenten auf Teilnahme an Kriegsverbrechen überprüft werden sollten, falls „Anhaltspunkte“ bestünden.
In Bremen sagte Versorgungsamtsleiter Raabe, verantwortlich für die Verwaltung der 3.777 Fälle von gezahlten Invalidenrenten in Nord- und Südamerika, daß die Angehörigen der Waffen-SS grundsätzlich wie normale Wehrmachtsangehörige behandelt würden. Dies steht in klarem Widerspruch zu der Ravensburger Verfahrensweise, alle Angehörigen der Waffen-SS zu überprüfen. Was ist mit den vielen lettischen Angehörigen der Waffen-SS, die in den Vereinigten Staaten leben? Warum werden sie auf Kriegsverbrechen überprüft, wenn sie ihren Antrag aus Lettland stellen, aber nicht, wenn sie ihn aus den USA oder Argentinien stellen?
Und obwohl das Versorgungsamt Hamburg, zuständig für Fälle in Großbritannien, Australien und Südafrika, in einem Telefongespräch mitteilte, daß im Laufe der Jahre sämtliche Antragsteller überprüft worden seien, berichtete Staatsanwalt Dreßen aus Ludwigsburg, bis zum 26. 7. 93 habe es keine Anfrage aus Hamburg gegeben.
Inzwischen sterben die wenigen Überlebenden des Holocaust in Lettland aus. Vielleicht hat Dr. Quantz vom Bundesfinanzministerium am besten zum Ausdruck gebracht, warum die Opfer keine Renten erhalten, während die SS- Veteranen einen Anspruch darauf haben: „Die deutschen Wiedergutmachungsregelungen sehen Entschädigungsleistungen an NS-Verfolgte, die in Ländern des ehemaligen Ostblocks leben, nicht vor. Demzufolge haben auch Geschädigte aus Lettland keine Leistungen erhalten. Eine Änderung der maßgeblichen Bestimmungen in den gesetzlichen und außergesetzlichen Wiedergutmachungsregelungen ist leider nicht möglich, weil sonst das gesamte System der deutschen Kriegsfolgen- und Entschädigungsregelungen beeinträchtigt würde“ (Quantz, Bundesministerium der Finanzen, Brief vom 29. Oktober 1993).
Daß Bonn 48 Jahre nach Kriegsende gezwungen werden mußte, Überprüfungen auf Kriegsverbrechen durchzuführen, die mangelhafte Einhaltung der Richtlinien in den Versorgungsämtern und der Mangel an Klarheit hinsichtlich des Verfahrens im Bonner Ministerium stehen in deutlichem Gegensatz zu der strikten Einhaltung der Politik, wenn es um Entschädigungen für die überlebenden lettischen Juden geht. Diese Politik vermag nicht nur die SS-Veteranen, sondern auch die Überlebenden des Holocaust in Lettland zu überzeugen, daß der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches tatsächlich das heutige Deutschland ist.
Der Autor ist amerikanischer Journalist und lebt in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen