: Der ungewollte Prozeß
Die Bereitschaft der Justiz zur Verfolgung der Verbrechen war bereits zum Erliegen gekommen, doch das Beweismaterial war so gravierend, daß es nicht ignoriert werden konnte. Vor dreißig Jahren endete der Auschwitz-Prozeß ■ Von Heinz Düx
19. August 1965 – vor exakt dreißig Jahren verurteilte das Landgericht Frankfurt siebzehn Personen, die sich als untadelige deutsche „Ehrenmänner“ fühlten, wegen Mordes zu empfindlichen Freiheitsstrafen. Sechs mußten lebenslang hinter Gitter, elf erhielten Strafen zwischen 14 Jahren und 3 Jahren und 6 Monaten, drei Angeklagte wurden freigesprochen.
Die verurteilten „Ehrenmänner“ hatten auf polnischem Boden im kleinen Städtchen Auschwitz deutsch-faschistisches Sendungsbewußtsein in die Tat umgesetzt, indem sie an der staatlich organisierten Vergasung, Erschießung, Abspritzung, Erschlagung Hunderttausender Juden, Polen, Russen, Sinti und anderer Völkerschaften teilnahmen. Sie repräsentierten die gesamte Hierarchie eines deutschen Konzentrationslagers vom stellvertretenden Kommandanten über den Lagerarzt, den Lagerapotheker, den SS- Wachmann bis zu dem als Kapo der SS dienstbar gemachten Häftling. Der letzte Lagerkommandant Baer gehörte zunächst auch zu den Angeschuldigten; er verstarb jedoch vor Abschluß der gerichtlichen Voruntersuchung in der Frankfurter Untersuchungshaftanstalt Hammelsgasse.
„In Auschwitz begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen.“
Hans Hofmeyer, Vorsitzender
Richter im Auschwitz-Prozeß
Der Ausgang dieses Strafprozesses mit dem nicht unbeträchtlichen Strafrahmen stellte, gemessen an dem Umgang mit NS-Gewalttätern in anderen Verfahren der fünfziger und sechziger Jahre, ein atypisches Vorkommnis dar. Die Bereitschaft zur Verfolgung derartiger Verbrechen war damals nahezu zum Erliegen gekommen, weil eine außerordentlich hohe Zahl der Deutschen zumindest mittelbar in die NS-Gewaltherrschaft verstrickt war. Bei dem juristischen Personal wird das besonders augenfällig. So weist Ingo Müller in seinem Buch „Furchtbare Juristen“ darauf hin, daß beispielsweise in Westfalen 93 Prozent der Juristen der NSDAP oder ihren Nebenorganisationen angehört hatten, im Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg waren von 309 Juristen 302 Parteigenossen, in Bremen gab es gerade zwei Richter, die als unbelastet galten. Nach dem ersten Weltkrieg kursierte der Spruch „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“; abgewandelt kann man nach 1945 sagen: „Hitler ging, seine Richter und Staatsanwälte blieben.“
„Wenn wir alles nachvollzogen hätten, wären wir verrückt geworden.“
Gerhard Wiese, Staatsanwalt im
Auschwitz-Prozeß
Die alliierten Mächte hatten zwar in Gestalt des Kontrollratsgesetzes Nr. 10, das an die Rechtsprinzipien des Statuts des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg angelehnt war, den deutschen Juristen ein Instrumentarium an die Hand gegeben, das zu einer zügigen und nachhaltigen strafrechtlichen Bewältigung der NS-Vergangenheit hätte führen können. Die NS-verseuchte Richterschaft dachte aber nicht daran, sich dieses Gesetzes zu bedienen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde als eine Norm bezeichnet, die „unserem Rechtssystem nicht entspricht“, es handele sich um ein „für deutsches Rechtsdenken schwer faßbares Gesetz“. Die Berufung auf „deutsches Rechtsdenken“ war angesichts der Inhalte dieser Denkweise von 1933 bis 45 eine dreiste Provokation. Doch die Provokation hatte Erfolg, weil die Legislative ebenso wie die Rechtsprechung zur Begünstigung der NS-Gewalttäter bereit war. So erklärte der SPD- Abgeordnete Hans Merten im Bundestag, es sei „selbst einem juristischen Laien klar, daß die Prozesse nicht dem Vollzug der Gerechtigkeit gedient haben, sondern daß sie politische Prozesse ... gewesen sind.“ Merten resümierte: „Wir müssen Schluß machen mit jeder Diskriminierung von Deutschen auch vor dem Gesetz, Schluß mit der Rechtspraxis, deren Grundlagen von dem Willen der Rache und zur Vergeltung diktiert worden sind.“ Diese die NS-Gewalttäter begünstigende Betrachtungsweise führte über das erste Gesetz zur Aufhebung von Besatzungsrecht vom 30. 5. 56 zur Außerkraftsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10.
Damit glaubte die von massiver NS-Sympathisantenschaft geprägte deutsche Öffentlichkeit der fünfziger Jahre sich schon fast am Ziel einer Freistellung der zahlreichen Massenmörder aus rassistischen, nationalistischen und politischen Beweggründen von Strafe. Daß dieses Ziel partiell aber doch von den NS-Sympathisanten verfehlt wurde, resultiert aus zwei gegenläufigen Faktoren. Da waren einmal die bohrenden Proteste und Gegenvorstellungen der überlebenden Verfolgten im In- und Ausland. So erschien es den ehemaligen Häftlingen von Auschwitz, die am 27. Januar 1945 zu Tode erschöpft von der Roten Armee noch befreit werden konnten, unfaßbar, daß ihre Peiniger straffrei bleiben sollten. Ihr Fürsprecher, der österreichische Schriftsteller Hermann Langbein aus Wien, konfrontierte die deutschen Strafverfolgungsbehörden immer wieder mit schlüssigem Beweismaterial. Er kannte die Lagerstrukturen bestens, da er als Häftling für einen SS-Arzt Zwangsarbeit verrichten mußte.
„Eine Bagatelle, als ob ein Meer von Blut im Sand versickert.“
„Le Monde“ zum Auschwitz-Urteil
Das Beweismaterial war so gravierend, daß es einfach nicht ignoriert werden konnte. Da half den NS- Sympathisanten auch die Außerkraftsetzung des auf Massendelikte wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugeschnittenen Kontrollratsgesetzes Nr. 10 nicht weiter. Das Geschehen mußte unter dem Gesichtspunkt des individuellen Mordes des herkömmlichen deutschen Strafgesetzbuches geprüft werden.
Allerdings kann diese Prüfung in einer über Jahre sich hinziehenden, bewußt verschleppenden Weise erfolgen, so daß die schließliche Versandung des Verfahrens schon vorprogrammiert ist. Im Ermittlungsverfahren Auschwitz konnte diese Versandungsstrategie nicht zum Zuge kommen, weil für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zuständig war. Er war 1933 als junger Richter in Stuttgart wegen seiner Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie und zum Republikanischen Richterbund von den Nazis aus dem Dienst entfernt und in dem Konzentrationslager Heuberg/ Württ. inhaftiert worden. Nach seiner Haftentlassung emigrierte er nach Skandinavien. Nach Beendigung der NS-Gewaltherrschaft nach Deutschland zurückgekehrt, repräsentierte er die demokratische Minorität der als Richter oder Staatsanwälte tätigen Juristen. Er widmete sich dem Ermittlungsverfahren Auschwitz mit allem Nachdruck, unbeeindruckt von dem Haß und der Häme der Personen, die den Mantel des Vergessens über die NS-Verbrechen breiten wollten. Dr. Kempner, amerikanischer Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, brachte bei der Trauerfeier für den am 30. 6. 68 verstorbenen Fritz Bauer zum Ausdruck, innerhalb und außerhalb seiner Behörde war er von „politischen Rufmördern“ umgeben.
„Der Prozeß hat die Sprachlosigkeit, die in den ersten zwanzig Jahren Bundesrepublik darüber herrschte, beendet.“
Michael Stolleis, Rechtshistoriker
Diese Einschätzung Kempners kann ich aus der Sicht des Untersuchungsrichters, der das Verfahren 1961 von der Generalstaatsanwaltschaft zur gerichtlichen Voruntersuchung übernahm, bestätigen. Die Anfeindung Fritz Bauers resultierte allein aus der Ingangsetzung von Verfahren gegen NS-Täter. Kurz ausgedrückt ist es in der Tat so, ohne Bauer und Langbein wäre es wohl kaum zu dem eingangs erwähnten Urteil in dem Massenmordkomplex Auschwitz gekommen.
Der Widerstand der NS-Sympathisantenszene gegen das Auschwitz-Verfahren setzte sich auch nach Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung noch fort. Sog. „Kollegen“, die mit dem Verfahren nicht befaßt waren, regten wegen der großen Zahl von Angeklagten an, das Verfahren in Einzelverfahren bei verschiedenen Gerichten aufzusplittern. Hinter dieser Anregung verbarg sich nichts anderes, als eine Offenlegung des gesamten Systems staatlich organisierten Massenmordes zu verhindern, wie es durch das eingeleitete Großverfahren geschah. Der Vorsitzende einer Haftprüfungskammer vertrat die Meinung, die Untersuchungshäftlinge seien zu entlassen, weil die Zeugenaussagen der KZ-Insassen durchweg unglaubwürdig seien.
„Sühne setzt, wenn man sie nicht mit Rache verwechseln will, Schuldeinsicht voraus. An der hat es bei den bestraften NS-Verbrechern durchweg gefehlt.“
Heinrich Hannover, Rechtsanwalt
und Autor
Mit Rücksicht auf die vielfältigen Zeugenaussagen mit Ortsbeschreibungen war eine Besichtigung des Verbrechensortes unerläßlich. Für diese Dienstreise war eine Genehmigung der Justizverwaltung notwendig. Die Genehmigung wurde versagt, unter anderem wurde geltend gemacht, es sei schon nicht gern gesehen worden, daß der polnische Untersuchungsrichter Jan Sehn aus Krakau, Professor für Staats- und Völkerrecht, in die Bundesrepublik eingereist sei und Beweismaterial überbracht habe. Als ich im Interesse des Fortgangs der Ermittlungen vorschlug, an einem Wochenende auf eigene Kosten als Privatmann nach Auschwitz zu reisen, um mir die nötigen Kenntnisse über den Verbrechensort zu beschaffen, wurde erwidert, nicht irgendwelchen „Verlockungen“ zu erliegen; leicht verschlüsselt wurde drohend angedeutet, der polnische Staat oder eine Organisation könne wohl der Reisegeldgeber sein. Dem konnte man nur mit energischem Protest begegnen und unbeirrt in kürzesten Zeitabständen den Antrag auf Genehmigung der Dienstreise wiederholen, so daß der Widerstand der Justizverwaltung gegen die notwendige Dienstreise schließlich gebrochen werden konnte. Als Zeuge konnte ich später dem Schwurgericht vermitteln, wie wichtig die Besichtigung des Verbrechensortes für die Würdigung der Zeugen- und Angeklagtenaussagen ist, so daß das Schwurgericht zur Fundierung seines Urteils auch eine Ortsbesichtigung vornahm.
Hat das im Rahmen der weit verbreiteten Begünstigung von NS-Tätern durch die deutsche Justiz als atypisch anzusehende Urteil im Auschwitz-Prozeß überhaupt einen über den Zeitpunkt seiner Verkündung hinaus wirkenden Stellenwert erlangt? Wenn man den seit Wiedererstehung des deutschen Einheitsstaates 1989/90 zu beobachtenden Rassen- und Fremdenhaß mit seinen Übergriffen auf Leben, Leib und Sachen in Betracht zieht, erscheint alles Bemühen vergeblich. Aber folgendes sollte man doch erwägen:
„Jedes Urteil muß unzulänglich bleiben, weil das Recht nicht ausreicht, die Schuld der SS-Schergen abzumessen.“
Hermann Langbein, Auschwitz-
Häftling und Prozeßbeobachter
Das Urteil vom 19. 8. 65 und das vorangehende Prozeßgeschehen vollzog sich in einer gesellschaftlichen Phase kleinbürgerlichen Stillstandes, bedacht auf Verhüllung einer kriminellen Entgleisung in der Zeit 1933–45. Das Urteil trug sicher dazu bei, daß Söhne nach dem Verhalten ihrer Väter während der Herrschaft des Faschismus fragten. Das Urteil kommt also als einer der kausalen Faktoren der Bewegung 1968 in Betracht. Diese Bewegung führte dann zu einer bis heute fortwirkenden eigenständigen Hinterfragung der NS-Gewaltherrschaft und der mangelhaften Entschädigung ihrer Opfer. Insoweit dürfte dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß eine gewisse Mitursächlichkeit einzuräumen sein.
Der Autor war Untersuchungsrichter im Auschwitz-Verfahren
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