: Papenburger „Estonia“-Bauer werden verklagt
■ Internationale Anwaltsgruppe wirft der Werft und den Behörden schwere Fehler vor
Stockholm (taz) – Die Meyer-Werft in Papenburg kann sich auf eine Schadensersatzklage von mehreren hundert Millionen Mark einstellen. Ein Dutzend internationaler JuristInnen werfen ihr schwere Fehler bei der Konstruktion der Fähre „Estonia“ vor, deren Untergang im letzten Dezember etwa 1.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Die von den Angehörigen der Opfer beauftragten RechtsanwältInnen wollen auch das „Bureau Veritas“ verklagen, die Klassifizierungsgesellschaft, die dem Schiff die Seetüchtigkeit bescheinigte. „Dies wird der umfassendste Prozeß über einen Schiffsuntergang, den es bisher gab“, kündigte am Wochenende der Sprecher der Anwaltsgruppe, der US-Rechtsanwalt Richard V. Singleton, an. Er arbeitet für die New Yorker Rechtsanwaltsfirma Healy & Baillie, die unter anderem Prozesse wegen des Untergangs des Öltankers „Amoco Cadiz“ führte. Rampe und Bugklappe der „Estonia“ seien entgegen geltender Vorschriften konstruiert, sagte Singleton, das Bodenschloß der Bugklappe sei außerdem zu schwach ausgelegt gewesen. Dafür trage die Werft eine „Produkthaftung, von der sie sich nicht unter Hinweis auf die Experten und Behörden freisprechen kann, die das Schiff abgenommen haben“. Aber auch das private „Bureau Veritas“ sei verantwortlich, da es die Aufgabe gehabt habe, Bau und Zustand des Schiffes zu kontrollieren.
Die Anwaltsgruppe stützt sich im wesentlichen auf den im Frühjahr vorgelegten Zwischenbericht der Internationalen Havariekommission. Besonders schwerwiegend findet sie, daß weder Werft noch Behörden auf einen vergleichbaren Schaden des Schwesterschiffs „Diana II“ reagierten. Singleton: „Die Estonia wurde praktisch zum Untergang verurteilt.“
Den Entlastungsversuchen der Werft gibt der Anwalt keine Chance: „Wenn argumentiert wird, solche Fehlkonstruktionen seien damals an der Tagesordnung gewesen, taugt das nicht als Ausflucht. Wenn ich auf einer Straße mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 Stundenkilometern 100 fahre und einen Unfall baue, interessiert das Gericht überhaupt nicht, daß andere auch zu schnell gefahren sind.“
Eine genaue Schadensersatzforderung wollte Singleton noch nicht nennen. Der Prozeß wird vermutlich mit einer gemeinschaftlichen Klage gegen die Werft und die Klassifizierungsgesellschaft vor einem französischen Gericht geführt – die AnwältInnengruppe hat Vergleichsverfahren ausfindig gemacht, die das Prozeßrisiko vor einem französischen Gericht geringer erscheinen lassen. Die Angehörigen der „Estonia“-Opfer sind von der Versicherungsgesellschaft der Reederei mit rund 100 Millionen Mark entschädigt worden. Die weitere Klage diene dazu, sagte ein Sprecher der Angehörigen, „die Verantwortlichkeiten an der Katstrophe ganz klarzumachen“. Reinhard Wolff
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