: „Das wäre ein Grund, subversiv zu werden“
taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 5): In der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg hat sich der „Dorfcharakter“ über die Wende hinweg erhalten. Für die einen droht Gefahr für die Idylle durch Sanierung, für die andern durch neue Kneipen und Touristen ■ Von Uwe Rada
Fünf Jahre nach der Vereinigung beider Stadthälften ist Berlin noch immer eine Stadt der Ungleichzeitigkeit. Orte der rasanten Veränderung befinden sich oft in unmittelbarer Nähe zu Orten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht. In der Serie „Ortswechsel“ soll diesem Reibungsverhältnis nachgespürt werden, aber auch den Ängsten und Hoffnungen derer, die den Veränderungsdruck und Stillstand aus eigener Erfahrung kennen.
„Viele, die jetzt kommen, sind mir fremd“
Dietmar Halbhuber (47): Vor sechs Jahren war die Oderberger Straße noch eine Straße, in der die Urbevölkerung in der Überzahl war. Trotz der Künstler und der Leute, die überall aus der DDR hierhergekommen waren. Das hat sich ziemlich gewandelt.
Ich beobachte, daß sehr viele jüngere Leute aus dem Westen hier auftauchen. Ich nehme an, die kommen, weil die Mieten hier noch günstiger sind und weil der Bezirk Prenzlauer Berg so attraktiv geworden ist. Ich sage immer, das ist der Charme des Maroden. Kreuzberg scheint nicht mehr so attraktiv zu sein für die, die alternativ leben wollen. Ich habe den Eindruck, daß dort die Achtundsechziger älter geworden sind und ein bißchen betuchter und es deshalb ruhiger geworden ist. Für die jüngeren ist der Prenzlauer Berg jetzt der Bezirk, wo was passiert, wo noch vieles möglich ist.
Ich lebe seit 1986 in der Oderberger Straße. Früher hatten wir in der Straße hier eine Kneipe, das war der Oderkahn, und jetzt haben wir in der Oderberger und um die Ecke in der Kastanienallee zehn Kneipen. Das zieht natürlich jeden Tag ein Publikum an, das früher hier nicht war. Da sind mir viele Leute fremd. Das muß ich schon so sagen, zumal sie sich oft sehr rücksichtslos verhalten.
Vor einiger Zeit hatte ich einen Freund aus der Schweiz zu Besuch, und wir gingen in eine Kneipe. Wir sitzen da am Tisch, da geht die Tür auf, und es kommt ein Pulk von fremden Menschen herein. Die setzen sich alle an unseren Tisch und fragen uns, ob wir uns nicht woanders hinsetzen können, sie brauchten jetzt noch Platz. Daraufhin hab' ich dann ganz klar nein gesagt, was ja sonst nicht meine Art ist. Das ist hier meine Straße, hab' ich gesagt, hier bleib' ich jetzt sitzen. Da hat dann mein Freund aus der Schweiz plötzlich gesagt: Jetzt versteh' ich dich.
Ich glaub' schon, daß die Oderberger und auch die Kastanienallee so ein neues Zentrum werden. Ich glaube, daß hierher auch viele von Mitte kommen. Der Hackesche Markt war ja eines der ersten Gebiete, die erobert wurden. Wo ganz deutlich die Touristen und Eroberer den Ton angaben. Die Kneipen ziehen ja auch ein Publikum an, das dann angelockt sein könnte, selbst hierherzuziehen.
Aber man kann jetzt auch nicht sagen, daß die Kneipen, die hier alle entstanden sind, negativ sind. Was heute den Prenzlauer Berg attraktiv macht, ist im Grunde ja dasselbe, was auch uns damals hierhergezogen hat, wonach wir Sehnsucht hatten. Viele, die jetzt in die Oderberger Straße ziehen, die fügen sich auch ein, da kommt ja auch eine neue Luft mit rein, die ganz angenehm ist.
Das größte Problem neben den steigenden Mieten ist heute die Lautstärke. Ich habe den Eindruck, daß diese Wendewut, die die Leute gepackt hat, eine böse Energie ist. Ich hatte über mir einen, da hab' ich das richtig gemerkt, der mußte strampeln, um sich in der Marktwirtschaft zurechtzufinden und Fuß zu fassen, und diese ganze Energie hat er in den Fußboden reingetrampelt.
Dietmar Halbhuber war im „Oppositions“-Wohnbezirksausschuß aktiv und nach der Wende Chefredakteur der „Anderen“.
„Wer hierherkommt, soll aufmerksam sein“
Marly Riemer (41): Die paar Häuser, die hier neu gemacht wurden, verändern nicht wesentlich das Gesicht der Straße. Die Oderberger Straße ist noch immer meine Straße. Das ist der Drogist, der Fleischer – obwohl ich Vegetarierin bin –, das sind die Künstler im Katzenhaus, das ist der Farbenladen, der Dachgarten bei uns, der Hirschhof, das ist natürlich noch meine Straße.
Ich kann mir nach wie vor nicht vorstellen, daß ich mich so genervt fühle, daß ich die Straße verlassen muß. Außer wenn es hier mal so wäre wie am Wasserturm. Wenn das über uns kommen würde, das wär ein Grund, subversiv zu werden.
Ich lebe jetzt seit 1982 in der Oderberger Straße. Das Besondere in der Straße vor der Wende ist auch das Besondere nach der Wende. Du gehst aus dem Haus und weißt im Grunde genommen schon, daß du lieber zehn Minuten früher gehst, weil du den triffst und den, und da sagst du hallo. Das ist hier wie ein kleines Dorf.
Nach der Maueröffnung haben wir natürlich gemerkt, daß das auch eine Zwangssolidarität war. Da hat man sich eben im Oderkahn getroffen, weil das die einzige Kneipe war. Oder die Veranstaltungen im Hirschhof – da ging eben jeder hin. Und nach der Maueröffnung hat jeder erst mal sein eigenes Ding gemacht. Aber das hat zwei Jahre gedauert, dann ist man wieder zu dem zurückgekommen, was man vorher für sich in der Straße auch schon hatte.
Die, die neu in die Straße gezogen sind, bringen schon einen andern Geist rein. Für die ist das toll, in den Osten zu kommen. Da haben sie das Gefühl, sie können noch machen, was sie wollen. Im Westen ist ja vieles mittlerweile reglementiert. Für die ist das immer noch die Exotik. Manchmal, wenn ich das so mitkriege, in der Kneipe, dann denk ich schon mal, was wollen die eigentlich hier, dieses blöde Gequatsche. Aber eigentlich nervt mich das nicht. Ich finde es sogar gut, daß sich das hier in der Straße mischt. Die Leute sollen hierherkommen. Aber die sollen auch aufmerksam hierherkommen. Die brauchen nicht zu denken, sie sind hier die großen Macker.
Marly Riemer arbeitete vor der Wende bei der „Bildenden Kunst“, danach als taz-Redakteurin und ist heute freiberuflich tätig.
„Wer unterm Nußbaum wohnen will, muß weg“
Sabine Leschek (31): Ich find' das mit den Kneipen eine ziemliche Bereicherung. Wenn jemand unterm Nußbaum wohnen will, möchte er bitte nach Klein-Karow ziehn. Außerdem sind das hier in der Oderberger ja alles Kiezkneipen, weil das Publikum doch eher gemischt strukturiert ist. Alt und jung, Ökos und Schickimickis, und das find' ich eigentlich ganz gut. Ich find' es hier natürlich schon schöner als am Wasserturm, hier ist es noch kiezig, aber ich könnt' auch in einer Wasserturmgegend leben. Eins könnte ich aber nicht leiden: Dachetagen für 25 Mark den Quadratmeter, Architekturbüros, Zahnarztpraxen, Immobilienhaie, einen Börsenstützpunkt, eine Filiale der Sparkasse und der Deutschen Bank, 'ne Dresdner und 'ne Köpenicker Bank, Schlipszwang und um 22 Uhr Nachtruhe.
Was die Wessis betrifft, denke ich, daß Wessi-Sein keine Herkunftsbeschreibung mehr ist, sondern eine Beschreibung dafür, wie jemand ist, wie sich jemand gibt. Es gibt Leute, mit denen hab' ich einfach keine Lust Tür an Tür zu wohnen, und es gibt welche, mit denen ich gerne was zusammen mache. Die gibt es überall, und es ist egal, ob die nun aus Warschau oder Köln kommen. Diese kulturellen Unterschiede, die kann man ja auch als Bereicherung auffassen. Sabine Leschek besetzte kurz vor der Maueröffnung in der Oderberger Straße eine Wohnung und ist heute Sonderschullehrerin.
„Daß das jetzt belebt ist, find' ich gut“
Erhard Tapp (62): Zunächst bin ich froh, daß die Straße zur Bernauer hin wieder offen ist. Die Oderberger Straße ist für mich eine sehr schöne Straße. Und ich freue mich auch, daß die Straße überhaupt noch da ist, es gab ja noch zu DDR-Zeiten Pläne, die Oderberger Straße abzureißen.
Verändert hat sich einiges. Es gibt hier und dort ein Haus mit renovierter Fassade. Es gibt auf einmal verhältnismäßig viele Kneipen. Nun muß ich sagen, für uns war der Oderkahn früher gewissermaßen das Zentrum. Nicht nur zum Saufen, sondern wir haben dort auch wichtige Treffs gehabt vor der Wende. Da haben wir im Oderkahn Dinge besprochen, die wir vermieden haben in öffentlichen Sitzungen zu bereden. Wenn ich da heute reingehe, treffe ich keinen mehr von damals. Viele von denen sind heute dafür im Café Entweder Oder. Ich muß vielleicht ein bißchen vorsichtig sein. Ich neige manchmal dazu, nostalgisch zu werden, ohne dabei allerdings ostalgisch zu sein. Ich denke gerne an diese Zeiten, in denen es sehr spannend war. Die Leute, die damals den WBA unterwandert haben, die haben das triste Dasein mächtig aufgemöbelt. Da war was los, und ich spüre auch heute immer noch was davon. Zum Beispiel wenn jetzt junge Menschen, die damals nicht dabei waren, Feste auf dem Hirschhof organisieren. Das ist eine Kontinuität, über die ich mich freue. Ich bin selbst heute für aktive Mitarbeit nicht mehr so geeignet. Ich war ja knapp zehn Jahre WBA-Vorsitzender, das macht auch ein wenig müde. Aber neulich, als es darum ging, beim Fleischermeister Dufft eine Unterschrift für den Erhalt der Kiezkantine zu gewinnen, da war ich wieder mit dabei. Das mach ich dann gerne, so wie ich kurz nach der Wende Unterschriften gesammelt habe für den Erhalt der kleinen Läden. Daß diejenigen, die aus dem Westen in die Straße gezogen sind, Anlaß für Konflikte geben, kann ich nicht sagen. Ich habe manchmal sogar Schwierigkeiten zu erkennen, ob jemand aus dem Westen ist oder aus dem Osten. Ich bin darüber froh. Aber das muß man von den Touristen natürlich unterscheiden. Wenn ich am Kollwitzplatz bin, da spüre ich, es sind völlig fremde Menschen, die haben gehört, aha, der Prenzlauer Berg, und der Kollwitzplatz ist offenbar ein Zentrum. Hier in der Oderberger Straße, hier in den Kneipen hab' ich den Eindruck nicht, daß das Touristen sind. Bis jetzt finde ich das mit den Kneipen hier erträglich. Ich habe ja immer noch im Hinterkopf, wie leer diese Straße einmal war.
Erhard Tapp war Vorsitzender des oppositionellen WBA und ist Biologe im Ruhestand.
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