: Das Wunder von Guingamp
Ein Provinzclub aus dem Norden der Bretagne mischt sich unter Frankreichs Fußballelite und sorgt mit erstaunlich vielen Punktgewinnen für Aufsehen ■ Aus Guingamp Hardy Grüne
Um 21.12 Uhr machte Fabrice Divert die Sensation perfekt: Sein 1:1-Ausgleichstreffer im Pariser Prinzenparkstadion brachte „En Avant Guingamp“ – Aufsteiger in die höchste französische Fußballklasse – seinen ersten Auswärtspunkt, und das ausgerechnet bei Paris-Saint Germain, dem namhaftesten Verein des Landes. Vergleichbar allenfalls mit einem Punktgewinn des SV Meppen beim FC Bayern – wenn die Emsländer denn in die Bundesliga aufgestiegen wären.
Eine Woche später schlug Guingamp erneut zu, bezwang den UEFA-Cup-Teilnehmer Girondins Bordeaux im heimischen Stadion mit 1:0 und schob sich, noch ungeschlagen, auf den zweiten Tabellenplatz vor – punktgleich mit St. Germain (beide 11). Dies war der vorerst letzte in einer Reihe atemberaubender Erfolge. Innerhalb eines Jahres schafften die Nordfranzosen den Sprung von der dritten Liga ins französische Fußballoberhaus und dürfen sich nun erstmalig in der Vereinsgeschichte mit den großen Namen messen.
Auf den ersten Blick handelt es sich bei dem im Herzen des Départements Côte d'Armor gelegenen Guingamp um eine typische bretonische Kleinstadt: pittoreskes Zentrum mit großem, kopfsteingepflasterten Marktplatz, mittendrin die unvermeidliche Kathedrale, entlang der Route Nationale das hochmoderne Industrieviertel. Weitab von der Metropole Paris sind die Tage noch ruhig und gemütlich. Die knapp 8.000 Einwohner leben vornehmlich von Landwirtschaft und Tourismus. Bodenständig wie die Bretonen sind, kann sie so leicht nichts erschüttern. Doch wenn am Samstag abend im Fußballstadion Roudourou hoch über der Stadt die Flutlichter angehen, entwickeln sie südländisches Temperament. „Allez Guingamp“ schallt es dann durch die Betonschüssel, deren Fassungsvermögen mit 16.000 Plätzen doppelt so groß ist wie die Stadt Einwohner hat. 1990 eröffnet, hatten die Planer Weitblick gezeigt: Jedes zweite Wochenende ist das Stadion rappelvoll, und das wird vorerst wohl auch so bleiben.
„Guingamp au paradis“ titelte die Sportzeitung L'Equipe, als im Mai 1995 nach dem 1:0-Heimsieg gegen Toulouse der Aufstieg in die erste französische Fußballklasse gelungen war. Seitdem geben sich die Medienvertreter auf der Suche nach dem „Wunder von Guingamp“ die Klinken in die Hände, und die vier örtlichen Hotelbesitzer freuen sich über die Zusatzeinnahmen.
En Avant – das steht für „Vorwärts“, und kaum ein Name könnte passender sein für die vergangenen Jahre. Im Sommer 1993 stand der Klub nach dem Abstieg in die Drittklassigkeit noch vor einem Scherbenhaufen. Doch die Verantwortlichen verfielen nicht in Panik. Trainer Francis Smerecki wurde das Vertrauen ausgesprochen, und der ehemalige Erstligaspieler rechtfertigte es mit dem doppelten Aufstieg. „Smerecki hat Dynamik und Professionalität in den Klub gebracht“, weisen die Verantwortlichen auf die Rolle des Trainers hin, nach dessen Meinung das Erfolgsgeheimnis der „Esprit“ von En Avant sei. Die „einzigartige Mischung zwischen ländlicher Atmosphäre und geordneten Finanzen“ habe den Erfolg möglich gemacht, und man wolle auch jetzt nicht verrückt werden. Tatsächlich herrscht Gelassenheit. Hauptsponsor „Rippoz“, regionaler Käse- und Milchproduzent, der den Klub seit zwölf Jahren unterstützt, verlängerte schon lange vor dem feststehenden Aufstieg den Vertrag bis 1997.
Auch bei Neuverpflichtungen schaut man genau hin. „En Avant, das ist kein Millionenbudget und keine Anlaufstelle für abgetakelte Stars.“ Vielmehr will man weiterhin die „besondere Fußballkultur dieses Teils der bretonischen Küste fördern“. Sieben Spieler im aktuellen Kader sind echte Eigengewächse, sechs weitere sind in der Bretagne geboren. Für Vereinspräsident Lionel Rouxel ist der Aufstieg der „Beweis, daß man große Mannschaften nicht mit großen Budgets macht“. Sieben Spieler, mit denen man 1993 abstieg, sind 1995 immer noch dabei. Das Durchschnittsalter beträgt 24 Jahre, mit 34 Millionen Francs liegt der Saisonetat erheblich unter den 250 Millionen des PSG oder den 140 Millionen des FC Nantes. „Seit zwanzig Jahren ist der Klub für seine Seriosität bekannt“, freut sich der Präsident und vergißt bei den Lobeshymnen auch diejenigen Spieler nicht, die den Verein verlassen haben. „Der Aufstieg ist der Erfolg der diesjährigen Mannschaft, aber auch der vorjährigen. Es wäre ungerecht, die zu vergessen“, mahnt Rouxel.
Für die Erstligasaison gibt man sich keinen Illusionen hin: „Wir spielen bis zum Schluß gegen den Abstieg“, ist man sich einig, vertraut aber gleichzeitig auf seine Erfolgself. Die aber wurde nach dem Weggang von Torjäger Stéphane Guivarc'h zum Klassenkonkurrenten AJ Auxerre empfindlich geschwächt. Mit Fabrice Divert sicherte sich Trainer Smerecki jedoch hochkarätigen Ersatz, denn der dreifache Nationalspieler hat bereits über 240 Erstligaeinsätze für Montpellier und Caen auf dem Buckel. Publikum und Sponsoren ziehen ebenfalls mit. Über 2.600 Dauerkarten – Vereinsrekord – gingen über den Ladentisch, und Hauptsponsor Rippoz beruhigt schon mal vorsorglich, „daß auch eine Niederlagenserie oder gar der Abstieg“ keine Folgen hätte.
Im ganzen Lande fliegen dem Neuling die Sympathien zu, doch Trainer Smerecki weiß, daß das allein nicht ausreicht. „Ich will nicht, daß En Avant nur eine sympathische Mannschaft wird, weil sie nichts anderes als die ,Bananen‘ bekommt“, warnt er und fordert statt dessen schnelle Eingewöhnung in die höchste Spielklasse, „um nicht gleich alles zu verpfuschen“. Auch vom vermeintlichen Duell „Dorf gegen Großstadt“ will er nichts wissen. „Wenn Guingamp gegen Paris spielt, dann heißt das nicht, daß 8.000 Einwohner gegen vier Millionen spielen, sondern daß sich zwei Profiteams der ersten Liga gegenüber stehen“, nahm er vor dem Spiel in Paris wohlweislich sämtlichen Sozialromantikern den Wind aus den Segeln.
Der Bürgermeister jedoch freut sich diebisch über den fußballerischen Höhenflug. „Mit jedem Erfolg wird die Zahl der Franzosen, die Guingamp auf der Landkarte finden können, größer“, frohlockte er nach dem Pariser 1:1.
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