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„Eine der beschämendsten Erscheinungen“

■ Bereits jedes neunte Kind im Westen und jedes fünfte im Osten lebt in Familien am Rande der Armutsgrenze. Wohlfahrtsverbände warnen vor „bedrohlicher Entwicklung“

Bonn (taz) – Kinder sind und werden in der reichen Bundesrepublik nach wie vor benachteiligt, ihre Entwicklung ist vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt. Zu diesem Ergebnis kommt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände in ihrem Situationsbericht „Kinder in Deutschland“. Der Präsidentin der Bundesarbeitsgemeinschaft, Soscha Gräfin zu Eulenburg, geht es dabei nicht in erster Linie um existentielle Grundsicherungen wie Nahrung und Bildung. Die Armut von Kindern in Deutschland sei aber „eine der beschämendsten Erscheinungen der Gegenwart“. Die Bundesrepublik stelle erheblich weniger Geld für Kinder zur Verfügung als vergleichbare europäische Nachbarstaaten.

Nach den Erkenntnissen der sechs größten und überkonfessionellen Wohlfahrtsverbände lebt in Westdeutschland jedes achte bis neunte Kind, in Ostdeutschland sogar jedes fünfte Kind in einkommensschwachen Familien. Diese verfügen über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens. Nach einer Hochrechnung von Wilhelm Schmidt von der Arbeiterwohlfahrt, sind das „rund zwei Millionen Kinder“. Rund vier Millionen Jungen und Mädchen lebten in beengtem Wohnraum. Vorrangiges Ziel der Politik, sagte Eulenburg, müsse deshalb „eine ausreichende und bedarfsgerechte Absicherung der Kinder“ sein. Sie kritisierte in diesem Zusammenhang die von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) geplante Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes. Die weitere Einschränkung der Hilfe zum Lebensunterhalt wie etwa die Anbindung der Sozialhilfe an die Nettolöhne belaste vorrangig Familien mit Kindern. Das mühsam erkämpfte Jahressteuergesetz mit dem erhöhten Kindergeld reiche bei weitem nicht aus.

Die Wohlfahrtsverbände fordern bessere familienpolitische Leistungen: Für Familien müßten bezahlbare Wohnungen geschaffen werden. Außerdem sei dafür zu sorgen, daß Erwerbstätigkeit und Familie besser zu vereinbaren sei und Alleinerziehende nicht länger benachteiligt würden.

Schmidt und Eulenburg klagten eine bessere rechtliche Absicherung für Kinder ein. Ihre rechtliche Stellung müsse angesichts von mehr als 2,6 Millionen Alleinerziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern gestärkt werden. Außerdem müsse der Rechtsstatus von Flüchtlings- und Migrantenkindern verbessert werden. Nicht zuletzt zwängen die rasante Entwicklung der Gentechnologie und künstliche Befruchtungsmethoden zu einer dringenden Diskussion über „das Recht des Kindes auf seine Identität“. Karin Nink

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