: Vom Blau jenseits der Pappe
■ Bürochefin beim Puppenspiel: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ – Außerordentliches im Homunkulus
Homunkuli: Reagenzkolbenprodukte. Den Menschen gleich, doch durchsichtig. Mit geheimen Kenntnissen begabt und tätig wie Elementargeister – den künstlich Erzeugten ist die Kunst sozusagen: eingelebt. Auch wenn es nicht jede Anweisung des Paracelsus detailliert ausführen mag, der Herstellung von Homunkuli hat sich das Homunkulus Figurentheater durchaus verschrieben.
Das Homunkulus ist ein Kind der Wende. Ein jahrzehntelang als Lagerraum genutztes kleines Kino in der Pankower Florastraße fiel vom Runden Tisch ab und dem Puppenspieler Karl Huck zu, der dorten Sitz und Stimme hatte. Inzwischen feierte das Theater seinen fünften Geburtstag, die Spieler erhalten den diesjährigen Kulturpreis Pankow und die dreijährige Optionsförderung des Senats.
Die Pankower haben ihr Theater angenommen, unter den Berliner Puppen- und Figurenspielern ist Homunkulus nicht unumstritten. Denn hier sind Puppen und Menschen gleichberechtigt. Der Spieler ist immer auch Figur – im Glücksfall gar durch die Puppe animiert, denn dem künstlich Erzeugten ist die Kunst ja eingelebt.
Das funktioniert nicht immer, geht aber Erwachsene wie Kinder gleichermaßen an, und Homunkulus zählt zu jenen Berliner Puppen- und Figurentheatern, die mit zunehmendem Erfolg auch einen Abendspielplan für Jugendliche und Erwachsene anbieten. Für ein „absurdes Spiel mit Pappe und Feuer“ lieferte Hans Christian Andersens 1845 geschriebenes Märchen von dem „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ Zündstoff.
Silvesterabend. Das letzte Blatt Papier ist gelocht, geordnet und ordnungsgemäß zerschnipselt, darunter ein Brief, vielleicht ein Liebesbrief, die Worte aus den Schnipseln nicht mehr rekonstruierbar. Die Kollegin hat sich abgemeldet, und eigentlich bliebe der Chefin nichts mehr zu tun, gäbe es da nicht noch das eine Paket auf dem Schreibtisch. Keine Briefbombe, sondern eine kleine Puppe enthaltend, ein kleines Mädchen mit nackten Füßen.
Die emanzipierte Bürokratin inmitten gestapelter Bürokartons spielt das Mädchen, das sich an den Flammen seiner nichtverkauften Hölzchen die Finger wärmt und sich in ein besseres Leben träumt? Es funktioniert. Denn Gerlinde Tschersich vermengt die Rollen der Spielerin und der offen geführten Spielzeugpuppe nicht, sondern erzählt die Geschichten beider parallel. Chefin und Mädchen gehören zwar in verschiedene Jahrhunderte und Gehaltsgruppen, und aus den Wünschen der einen sind die Obsessionen der anderen geworden, die Winterkälte jedoch ist letztlich desselben Ursprungs.
Kierkegaard bemerkte, Andersen versuche „in der Verzagtheit seiner eigenen poetischen Geschöpfe gleichsam eine Genugtuung für seine eigene Verzagtheit zu finden“. Nichts anderes führt Regisseur Karl Huck aus. Gerlinde Tschersich spielt mit knappen, kalkulierten Gesten eine Frau, die sich in der rationalisierten Irrationalität ihres Büros ganz heimisch fühlt, sich aber zunehmend mit dem Mädchen identifiziert und dessen Sehnsüchten die eigenen Lüste unterlegt.
Es gelingt ihr, den rührenden und lächerlichen Anstrengungen des Puppenmädchens zu eigenem Gefühl und Ausdruck zu verhelfen. Nebenbei animiert Tschersich die Attrappen einer Weihnachtsgans und zweier Bratäpfel zum urkomischen Tischballett, kraucht, mit einer Girlande elektrischer Kerzen behängt, als Weihnachtsbaum über den Fußboden und nutzt die Erhöhung des Mädchens mit den Schwefelhölzchen dann zum eigenen Befreiungsschlag.
Denn eine poetische Existenz ist nicht mehr in die profane Alltagsexistenz rückführbar. Die Frau durchschlägt die hintere Wand von Pappe, und zu dem musikalischen Schwulst des „Spartacus“-Balletts von Chatschaturjan verläßt die Madonna mit dem Kind den Karton, um in Glanz zur Neujahrsfreude einzugehen. Ganz wie im Märchen. Zwar will uns die Monitoreinblendung weismachen, da wäre noch Pappstadt, aber hinter der Bühne scheint nur blaues Licht. Jens Knorr
Weitere Vorstellungen erfragen: Homunkulus Figurentheater, Telefon: 4824046
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen