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Der Technologie-Messias

Wer noch nichts von Windows 95 gehört hat, muß auf dem Mars leben. Wie Microsoft-Chef Bill Gates den Gospel unter die Leute bringt  ■ Von Ian Katz

Halten Sie sich einige der technischen Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte vor Augen. Soviel wir auch über die Preise von CDs jammerten, es war unbestreitbar, daß sie etwas Neues zu bieten hatten, das besser war als Vinyl – und wenn es nur die Aussicht war, das schreckliche Stück am Schluß von Madonnas „Like a Virgin“ überspringen zu können. Und obwohl die Puristen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, daß es die Technik, die hinter den Fax-Maschinen steht, schon seit dem Ersten Weltkrieg gibt – es war offensichtlich, was auch an ihnen neu ist: Sie sind die Post ohne Briefträger, die Instant-Post. Sogar mobile Telefone waren ein klarer Schritt vorwärts und im übrigen auch ein Gewinn an urbanem Status.

Aber was ist das Neue an Windows 95, dem meistbeworbenen technischen Produkt der Neuzeit? Nun, zum einen, so sagte es jedenfalls Bill Gates vergangenen Montag zu Larry King auf CNN, ist die Nomenklatur völlig anders als die der anderen enorm populären Microsoft Betriebssysteme. Die Firma gab ihren Produkten normalerweise recht dröge numerisch ansteigende Namen wie „1“, „2“, „3.1“, so erklärte er, aber „für ein sehr, sehr großes Produkt wie dieses“ erklärten sie das Jahr zum Startjahr, als stünde ein Raketenabschuß bevor.

Wir sollten nicht unfair zu Mr. Gates sein. Er hat schließlich auch erklärt, daß sein neues Wundermittel ein „großer Fortschritt für Windows ist, und Windows ist das Programm, das die meisten PCs benutzen“. Aber nicht einmal das schien das große Hallo zu rechtfertigen. Wenn ein Autohersteller einen großen Fortschritt in der Getriebekonstruktion verkündete – nehmen wir an, es erlaubte den Autos, mit Grapefruits betrieben zu werden statt mit Benzin – dann würden wir auch ein bißchen genauer wissen wollen, was genau dahintersteckt, bevor wir die Revolution verkünden. Wenn man solche Detailfragen in bezug auf Windows 95 stellt, scheint seine Durchschlagskraft gleich erheblich gemindert. Wenn man sich mit Computerfreaks unterhält, die das Programm eilgetestet haben, schwärmen sie von dem „logischer aufgebauten Desktop“ oder dem „reibungsloseren Interface“. Verkäufer loben seine „Benutzerfreundlichkeit“, was eine höfliche Umschreibung dafür ist, daß man wahrscheinlich etwas weniger fluchen muß, wenn man damit arbeitet. Aber was kann es denn, was vorher nicht ging?

Es erzeugt zunächst hübsche kleine Bildchen – „Ikonen“ heißen sie im PC-Jargon –, mit denen Sie ihre einzelnen Programme bezeichnen können und die es Ihnen ermöglichen, Ihre Texte zu benennen, wie immer Sie wünschen. Dies sei ein echter Fortschritt, so werden wir belehrt, gegenüber den traurigen Zeiten von Windows 3.1, das uns noch auf acht Buchstaben einschränkte. Windows 95 erleichtert auch die Benutzung mehrerer Programme gleichzeitig – multi- „tasking“ – und ermöglicht es, solche Zusätze wie ein CD-ROM- Laufwerk und einen Drucker zu integrieren.

Wenn diese Versprechungen Sie nicht in einen Zustand himmlischer Verzückung versetzen: nicht nervös werden. Das sollten sie nämlich auch nicht. Windows 95 ist, um es einfach zu sagen, keine Revolution, nicht einmal eine substantielle Revolte. Bei Apple Macintosh, Microsofts cleverem, aber abgeschlagenen Konkurrenten, hat man versucht, einen Slogan unter die Leute zu bringen: „Windows 95 ist Macintosh 87.“ Experten sind sich darüber einig, daß Microsofts neues System viele Eigenschaften von Macintosh übernommen hat, ohne allerdings je an das jüngste Apple-Produkt heranzureichen.

Wie hat Gates es geschafft, die halbe Welt davon zu überzeugen, daß er eine einschneidende Erfindung gemacht hat? Einerseits liegt die Antwort auf der Hand: mit einer höchst geschickten MarketingKampagne und einer enorm hohen Geldsumme von „mehreren hundert Millionen“, wie Gates grinsend im Fernsehen sagte. Mit dieser Summe and a little help from the Rolling Stones könnte man wahrscheinlich jeden von allem überzeugen.

Aber es geht um mehr als nur das Marketing-Budget. Auch für Nichtfachleute ist spürbar, daß Gates mit diesem spektakulären Start seine Hegemonie zementiert. Windows 95 festigt seinen Status als Messias der Neuen Technologien. Bill Gates hat vorausgesagt, daß eines Tages jedes Heim in der modernen Welt einen PC haben wird, und so ist es gekommen. Er hat vorausgesagt, daß die Menschen eines Tages Bildung, Information, Aufklärung über ihren Computer suchen würden, und so, Gott sei es gepriesen und geklagt, ist es gekommen. Nun hat der Prophet uns aufgetragen, Windows 95 zu laden, und wieder werden wir seinem gerechten Wort folgen.

Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat einmal die quasireligiöse Qualität der sogenannten „Betriebssysteme“ beschrieben, die die Art und Weise bestimmten, wie wir mit Computern arbeiten. MS-DOS, der Vorläufer von Windows, so behauptete er, war der Protestantismus zum Katholizismus von Macintosh. „Macintosh ist Gegenreformation und wurde vom methodischen Zugang der Jesuiten geprägt. Macintosh sagte den Gläubigen Schritt für Schritt, was sie tun müssen, um – wenn nicht in das himmlische Königreich – so doch zu dem Moment zu kommen, in dem ihr Dokument gedruckt wird.“

DOS war calvinistisch. „Es erlaubt die freie Interpretation der Schriften, fordert schwierige persönliche Entscheidungen, belastet den Benutzer mit einer subtilen Hermeneutik und geht von der Idee aus, daß nicht alle die Erlösung finden werden.“ Eco fand, daß Windows ein „Schisma anglikanischen Stils“ darstellte, „große Zeremonien in der Kathedrale, die aber immer die Möglichkeit enthalten, zu DOS zurückzukehren, um mit den Dingen herumzuspielen“. Windows 95 ist ein weiterer Schritt von Microsoft in Richtung auf die katechetische Welt von Macintosh, der kurz vor Rom haltmacht. Aber Windows 95 ist ein eher evangelischer Glaube; es verlockt die Konvertiten sowohl durch seinen Feuereifer als auch durch den Inhalt seiner „zwölf Disketten“.

Gates' Macht läßt sich leichter in weniger geistlichen Begriffen beschreiben. Man braucht keinen Abschluß in Ökonomie, um zu sehen, daß Microsoft ziemlich nah an ein Monopol heranreicht. Allein im letzten Jahr waren 75 Prozent der Computer mit Windows ausgestattet. Schon um die Weihnachtszeit wird man Schwierigkeiten haben, ein Modell zu finden, das nicht von Apple ist und Windows 95 nicht ankündigt. Aber es geht auch nicht einfach um einen Status als Monopol. Wer ein Monopol auf Schuhcreme hat, wird vielleicht sehr reich, aber er kann deshalb noch nicht beeinflussen, welche Art von Schuhe die Leute kaufen. Aber „Betriebssysteme“ sind etwas anderes, sie sind die Sprachen, über die wir mit unseren Computern kommunizieren. Indem er diese Sprachen formuliert, kann Gates im Grunde entscheiden, was wir mit unseren Geräten machen können. Windows 95 wird einen Boom anderer Programme auslösen, die sich so gut wie möglich anzukoppeln versuchen.

Mit diesem Programm hat Gates den Kampf der Software über die Hardware gewonnen. Der Computerriese IBM hat eine Zeitlang mißmutig versucht, um einen Einbau von Windows herumzukommen, und Lotus beauftragt, ein eigenes Programm zu entwerfen. Aber dieser Widerstand war kurzlebig. Alle neuen IBM-Geräte kommen mit Windows 95.

Jetzt, wo er die Hardware- Hersteller übertrumpft hat, eröffnet Gates nächsten Donnerstag eine neue Front mit dem Start eines Microsoft Network Online Service (MSN). Fachleute bezweifeln, daß der Service, eine Art Mini-Internet, schon auf der Höhe etablierter Anbieter wie Compuserve oder America Online ist. Aber die wenigsten glauben, daß das irgendeine Bedeutung hat: Wo Bill befiehlt, werden seine Gläubigen folgen. Es tut niemandem (außer seinen Konkurrenten) weh, daß die Software für MSN auf Windows 95 enthalten ist.

Es gäbe noch eine Menge anderer Subtexte zu der Windows-95- Kampagne zu entdecken. Für die Bewohner von Amerikas pazifischem Nordwesten bestärkt das Zusammentrommeln des größten Presseaufgebots für ein Firmenereignis auf dem Microsoft-Gelände außerhalb von Seattle den Status der Region als technisches Zentrum der Nation. Angesichts des Niedergangs der einheimischen Autoindustrie und des Verkaufs des letzten Fernsehherstellers ist es eine frohe Botschaft, daß Amerika zumindest in einem Gebiet noch immer einsam herrschender King ist.

Gates legte Wert darauf, das CNN-Publikum darauf hinzuweisen, daß mit der englischen zugleich auch die deutsche, spanische, schwedische und die italienische Version auf den Markt gehen. Nur die Japaner, so fügte Gates hinzu, müßten noch etwa einen Monat auf die Aufklärung warten. Mehr als nur ein paar Amerikaner werden diesen Aufschub zu schätzen wissen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Mariam Niroumand

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