piwik no script img

Ein weites Feld internationaler Kritikerschelte

■ Seit Günter Grass' Roman in den Regalen liegt, wird Reich-Ranickis Verrißpolitik auch aus dem Ausland gescholten. Geht es „nur“ um ein Buch“ – oder um Politik?

Hamburg (dpa) – Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der den Roman von Günter Grass, „Ein weites Feld“, als „unlesbar und absolut wertlos“ verrissen hat, gerät ins Schußfeld internationaler Kritik. Seit Samstag liegt der Roman in den Buchhandlungen.

Der niederländische Autor Harry Mulisch bezeichnete Ranickis Art der Rezension als „literarische Neuauflage des Führerprinzips“. Schwedens führende liberale Zeitung Dagens Nyheter überschrieb gestern ihre Besprechung mit der Schlagzeile „Lustmord an Grass“. Der Schweizer Autor Gerold Späth warf Ranicki „Stillosigkeit“ und „allerlei Entblödungen“ vor. Als unerträglich geißelte der Heidelberger Grafiker Klaus Staeck das Spiegel-Titelblatt, das Reich-Ranicki beim Zerreißen des Grass-Romans zeigt.

„Man bekommt den Eindruck, Grass sollte regelrecht physisch zertreten werden“, sagte Mulisch am Rande des Erlanger Poetenfestes vorgestern abend, „es geht doch nur um ein Buch.“ – „So einen Großkritiker mit einem solchen Einfluß zu haben ist schon sehr deutsch“, meinte er. In den Niederlanden sei dies undenkbar. Der Bestsellerautor vermutet: „Diese Kampagne ist höchstens zu dreißig Prozent literarisch. Der Rest ist Politik.“

Mit einem Plakat ergriff Staeck Partei für Grass in der Auseinandersetzung um den Spiegel-Titel. „Vom Umgang mit Büchern – Eine deutsche Fortsetzungsgeschichte“ steht in roter Frakturschrift auf dem Poster, das als Ausschnitt des umstrittenen Titelbildes Ranicki beim Zerreißen von Grass' neuem Roman zeigt. Die Spiegel-Titel-Montage „verläßt das Maß des im alltäglichen Medienzirkus noch Erträglichen“, kritisierte Staeck in einem am Montag verbreiteten Offenen Brief an das Hamburger Magazin.

Der Stockholmer Rezensent Per Landin schreibt: „Was sich zu der Grass-Fehde in der letzten Woche in deutschen Zeitungen und im Fernsehen abgespielt hat, weckt Erinnerungen an den Prozeß gegen O. J. Simpson. [...] Daß der Spiegel zum x-ten Mal das alternde Kritikerorakel Marcel Reich-Ranicki eine vorhersehbare Rezension schreiben ließ, kann man hinnehmen. Wenn das Blatt den Rezensenten aber auf dem Umschlag den Kritiker Grass' Buch buchstäblich in Stücke reißen läßt, bezeugt das eine Brutalisierung des literarischen Dialogs. Reich- Ranicki spielt die Rolle eines Hohepriesters in einem medialen Opferritual [...]“.

In einem Brief solidarisierte sich Späth, der den von Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis erhalten hat, mit dem angefeindeten Autor. Über Reich-Ranicki urteilte Späth: „Macht den Krakeeler, schrill, dreist und schleimherzlich zugleich.“ – „In alter Freundschaft wünsche ich Dir Wohlergehen und Erfolg“, schließt Späth an Grass.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen