: Stjepan Radić war der populärste kroatische Politiker: demokratisch, republikanisch, antiklerikal und streng pazifistisch. Dunja Melčić beschreibt die Zeit des „ersten Jugoslawien“ und wie Radić dem König und seiner Kamarilla im Wege war – am 20. Juni 1928 fielen dann in Belgrad...
Schüsse im Parlament
Am Morgen des 20. Juni 1928 versuchten besorgte Freunde vergeblich, Stjepan Radić von der Parlamentssitzung in Belgrad fernzuhalten. Doch der meinte lakonisch: „Wenn sie mich umbringen wollen, dann werden sie es nicht nur heute, sondern auch morgen oder übermorgen tun können.“
Die Sitzung begann mit wütendem Streit. Abgeordnete kroatischer Parteien fochten das Protokoll der Sitzung des Vortages an und verlangten, daß die Drohungen der Abgeordneten der Serbischen Radikalen Partei, Tomo Popović und Puniša Račić, mit aufgenommen werden: „Hier werden Köpfe rollen. Es wird keinen Frieden geben, bis wir Stjepan Radić umgebracht haben.“ Im Laufe der Debatte wurden die Drohungen wiederholt – der Vorsitzende unterbrach die Sitzung.
An diesem Tag war der neugeschaffene Staat im Südosten Europas erst zehn Jahre alt. Aber in diesen zehn Jahren hatte Belgrad es geschafft, diesen Staat für alle Nichtserben zur Hölle zu machen. Die Serbisierung in Kultur und Administration sowie grausame Repression trafen alle Nationen des Vielvölkerstaates hart.
Kroatien hatte als Teil der Doppelmonarchie eine staatsrechtliche Existenz und Tradition. Es war im formellen Sinne als ein politisches Subjekt anerkannt, hatte einen Landtag und damit eine der damaligen Zeit entsprechende parlamentarische Tradition. Jedes reale politische kleine Recht mußte man allerdings durch harten Kampf der ungarischen und österreichischen hegemonialen Macht entreißen.
Die Folgen waren, daß es in Kroatien eine politische Kultur und ein Selbstbewußtsein gab, die einerseits den mitteleuropäischen Standards, dem Alltag eines Rechtsstaats entsprachen; und daß der Kampf um die Verwirklichung der politischen Rechte und der Autonomie andererseits eine politische Elite hervorbrachte, wie es sie in dem Gebiet sonst nicht gab.
Stjepan Radić war ein Vertreter dieser Elite, von der ihn sein soziales Engagement unterschied. Mit seinem Bruder Ante gründete er die Kroatische Bauernpartei, der er als in Paris studierter Politikwissenschaftler ein theoretisches Fundament geben konnte. Ihre demokratische Vision orientierte sich am Vorbild der amerikanischen Demokratie.
Ihr Programm war republikanisch und auf die Mitte der Gesellschaft gerichtet, die damals im gesamten unterentwickelten Ost- und Südosteuropa eben die Bauernschaft stellte. Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen und sozialer Gerechtigkeit wiesen die Partei als modern aus.
Wie die Mehrheit der Bevölkerung bekannte sie sich zu den christlichen Idealen, war aber antiklerikal und strikt pazifistisch. Radić kritisierte ebenso scharf den preußischen Militarismus wie die revolutionäre Gewaltbereitschaft und Terroraktionen. Damit errang er immer mehr Unterstützung.
Absoluten Stellenwert für Radić hatte die Verfassung. Deshalb war er der schärfste Kritiker der übereilten „Gründung“ des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“, die eine illegale und illegitime Veranstaltung war.
Unter den kroatischen und serbischen Abgeordneten im Zagreber Parlament sowie bei den Intellektuellen herrschte damals eine wahre Gründungshysterie. Radićs Beharren auf einem rechten staatsrechtlichen Verfahren, das die bestehenden Institutionen Kroatiens zu achten hatte, war äußerst unpopulär, weil dies als unnötige Verzögerung (miß)verstanden wurde.
Das Erwachen erfolgte bald danach, als die serbische Gendarmerie ein Blutbad unter den Anhängern der Republik in Zagreb angerichtet hatte und Belgrad nach und nach alle demokratischen und staatsrechtlichen Institutionen aufhob.
Radić aber war zu dieser Zeit schon eingekerkert, des Hochverrats nach dem serbischen Strafrecht beschuldigt, das man auf Kroatien „erstreckt“ hatte; eigentlich hätte Radić als Abgeordneter Immunität genießen müssen. Bald waren auch andere Köpfe der Bauernpartei verhaftet: Es galt zu verhindern, daß sie mit einem Memorandum für die politische Selbständigkeit Kroatiens und 250.000 Unterschriften zur Versailler Friedenskonferenz fahren konnten.
Radić saß mehr als ein Jahr im Gefängnis, wo er einmal so zusammengeschlagen wurde, daß man um sein Leben bangen mußte. Er wurde aus Furcht vor einem „Volksaufstand in Kroatien“ entlassen. Dies verärgerte den Belgrader Hof, wo der spätere König Aleksander offenbarte: „Entweder mein oder Radićs Kopf!“
Angesichts der politischen Entwicklungen in der Monarchie am Kriegsende gab Radić die Option einer Donau-Föderation zugunsten der südslawischen Lösung auf. Die Realität des gemeinsamen Staates hatte er somit akzeptiert, aber nicht seine antiföderalistische Form als Königreich unter der Fuchtel einer aus dem Boden gestampften Dynastie.
Er wuchs – vor allem mit seinem sozialen Programm – zum wichtigsten Politiker in Kroatien, fand mit seinem Konzept der Demokratie von unten immer mehr Anhänger in anderen Gebieten und wurde mit seiner Kompromißfähigkeit zur wachsenden Gefahr für den Belgrader Polizeistaat. Bei den Wahlen von 1923 bekam die Bauernpartei siebzig Mandate und wurde somit zur zweitstärksten Partei im Königreich.
Mit anderen antizentralistischen (slowenischen und bosnisch- muslimischen) Parteien konnte Radić einen „Föderalistischen Block“ bilden. Doch blieb die Bauernpartei dem Parlament auch weiterhin fern, und die hoftreuen Radikalen, obwohl in der Minderheit, bildeten wieder die Regierung. Radić weigerte sich, die Monarchie und die illegitime Verfassung von 1921 anzuerkennen, hatte aber ein profundes Programm für einen kroatisch-serbischen Ausgleich ausgearbeitet.
Radić wollte dabei nie eine kroatisch-serbische Versöhnung auf Kosten der anderen; er achtete alle Nationalitäten als gleichberechtigt – daher seine Popularität auch außerhalb Kroatiens.
Man könnte das Verhältnis zwischen dem Ersten und Zweiten Jugoslawien so beschreiben: das erste hatte ein einziges der unerläßlichen Elemente eines modernen Staates – das Mehrparteiensystem, aber nicht das gleich wesentliche der föderalen republikanischen Staatsform; das sozialistische Jugoslawien wiederum erfüllte die Bedingung des Föderalismus, aber nicht die einer parlamentarischen Demokratie.
Das Parlament konnte im Ersten Jugoslawien überhaupt nicht funktionieren, weil sich alles immer um die fundamentalen Fragen des Staates selbst drehte. Wie sehr, dokumentieren die Reaktionen in der serbischen Presse auf den erwähnten Wahlerfolg der Bauernpartei: Sofort erwog man eine „Amputation“ des Landes, die quer durch Kroatien von Virovitica im Osten bis Karlobag an der adriatischen Küste Kroatien und Slowenien von „Serbien“ abtrennen sollte.
Sobald irgendwelche Ergebnisse von demokratischen Prozeduren sich auswirkten, sah Belgrad den Staatsbestand bedroht. 1925 kam es zur schweren Regierungskrise: das Parlament wurde aufgelöst, angeblich staatsfeindliche Parteien, darunter die Bauernpartei, wurden verboten, und Stjepan Radić mußte wieder ins Gefängnis. Doch bei den baldigen vorzeitigen Wahlen hat die Bauernpartei viele Stimmen dazugewonnen.
Radić, der erst Monate später freigelassen wurde, überschätzte die Bedeutung des Wahlsieges und war bereit, auf den republikanischen Grundsatz zu verzichten, die (illegitime) Verfassung und den König anzuerkennen, im Glauben, daß der Aufbruch der Demokratie eigentlich unaufhaltsam sei.
Außerdem erhielt Radić unerwartete Unterstützung von Svetozar Pribićević, der als kroatischer Serbe der gleichen politischen Elite aus k. u. k. Zeiten angehörte. Pribićević war zwar einer der Hauptverantwortlichen für die übereilte Staatsgründung, sah aber nach und nach eigene Fehler und das totalitär-terroristische Wesen des serbischen Hofes ein. Er wurde zum schärfsten Kritiker des Königs – ausgestattet mit Intimkenntnissen über dessen Betrügereien und Ränkespiele.
Das Doppel Radić-Pribićević profilierte sich nunmehr als aussichtsreiche demokratische Alternative zur diktatorischen Politik des Königs. So wie dieser und seine Kamarilla beschaffen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die Ermordung der beiden Politiker hinzuarbeiten. Das ausführende Instrument sollte der notorische Haudegen Puniša Račić sein.
Dieser bekam als erster Redner das Wort, als die Parlamentssitzung am 20. Juni etwa um 12 Uhr wieder aufgenommen wurde. Seine Sätze – „Ich als Serbe werde auch andere Waffen verwenden, wenn es um Interessen des Serbentums geht“ – riefen Empörung hervor. „Wenn Sie mich nicht beschützen“, wandte er sich an den Präsidenten, „werde ich es selbst tun“, zog die Pistole aus der Brusttasche und schoß auf den Abgeordneten Pernar, dann auf einen, der sich vor Radić stellte, erwischte noch einen dritten, der Radić zu Hilfe kam.
Radić saß nun ungeschützt vor ihm und wurde in den Bauch getroffen. Im zeitgenössischen Zeitungsbericht heißt es: „Svetozar Privićević saß neben Radić und wartete auf sein Los. Denn es war offensichtlich, daß Račić auch ihn töten wollte.“
Für Pribićević blieb offensichtlich keine Kugel übrig. Zwei Abgeordnete der Bauernpartei waren auf der Stelle tot, zwei schwer verwundet, und Stjepan Radić starb zwei Monate später an den Folgen seiner Bauchverletzung. Einige Monate später löste Aleksander das Parlament auf, ließ einen seiner Generäle die Regierung bilden, verbot alle Parteien und rief offen die Diktatur aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen