Zeit für die große Unruhe

■ Schlechte Bedingungen für die NGOs in Peking

Wem einmal die Ehre zuteil wurde, einer offiziellen Delegation in die Volksrepublik China anzugehören, wer dort, als Gast am anderen Ufer, sich in dem bizarren Ritual von Verhandlungen übte, bei denen Andeutungen und Gesten den Meinungsstreit ersetzten, wer erfuhr, wie Besuchs- und Begegnungswünsche zart dem Schicklichen angepaßt wurden, wer all dies – auch noch freiwillig! – durchlebte und durchlitt, den wird das Treffen Abertausender Frauen in Huairou bei Peking mit tiefempfundener, reiner Schadenfreude erfüllen.

Wer in der Lage ist, über eine Milliarde Untertanen im Auge zu behalten, dem sollte es leicht fallen, 30.000 in einem abgelegenen Ort zusammengepferchte Aktivistinnen zu kontrollieren, sie durch (nicht eingehaltene) Versprechungen zu zermürben, durch gezielt gestreute Privilegien zu entzweien, durch geschicktes Spiel mit dem Nord- Süd-Gegensatz zu polarisieren, um sie schließlich, ermattet und ohne greifbare Erfolge, wieder nach Hause ziehen zu lassen.

Doch Vorsicht, gewitzte Kontrolleure! Die große, vom Vorsitzenden Mao einst heraufbeschworene Unruhe zieht sich über eurem Himmel zusammen. Ihr selbst seid es, die dem Unheil Vorschub leisten. Hallen im Rohbau, viel zu kleine Versammlungsräume, zusammenbrechende Kommunikation, durcheinandergewürfelte Schlafplätze – wie soll unter diesen Umständen effektive Überwachungs- und Zersetzungsarbeit geleistet werden?

Staatliche Manipulation bedarf des geordneten Rahmens: funktionierende Sekretariate, abgesprochene Tagesordnungen und Rednerlisten, wohlpräparierte Resolutionen. Regierungsunabhängige Organisationen, die diesen Namen verdienen, gedeihen hingegen am besten unter den Bedingungen des Chaos. Aus dem Chaos entstehen von einem Tag auf den anderen die kleinen und großen Netzwerke, die – und sei es nur auf kurze Zeit – soziale, ethnische und religiöse Abgründe überbrücken, die zu überraschenden Koalitionen und unvorhersehbaren Aktionsformen führen. Ihr werdet, teure chinesische Kongreßvorbereiter, sicher einwenden, Überlegungen dieser Art seien nichts als spontaneistischer Unfug. Und um ganz sicher zu gehen, habt ihr gestern ein allgemeines Demonstrationsverbot über Huairou verhängt. Eine unterkomplexe Maßnahme, um es höflich auszudrücken. Habt ihr denn rein gar nichts aus den Dokumenten der Frauenbewegung gelernt, die ihr, keine Kosten scheuend, ins Chinesische übertragen ließt? Christian Semler