: Rückwärtsgewandte Bedenkenträger
■ betr.: „Die Deutschen als Serien- täter“, taz vom 29.8.1995
Ach Mensch, Oltmann, der Anlaß für mein Buch war doch nicht die Diskussion um einen UN-Einsatz in Bosnien, sondern die „nationalliberale“ Renaissance der Geopolitik. Deren anachronistische Gedankenwelt – nicht meine! – habe ich zu Ende gedacht bzw. fortgeschrieben. Aber diese Differenz zwischen mir und der Geopolitik, die im Vorwort ja ausdrücklich erklärt wird (selbst der Klappentext erwähnt das parodistische Element „Verschwörungstheorie“), nimmt Oltmann nicht zur Kenntnis. Selektives Lesen und selektives Schreiben gehören offenbar zusammen.
Weil Oltmann meine ablehnende Haltung zur Militärintervention Deutschlands auf dem Balkan nicht paßt (hat nicht eigentlich Bundesverteidigungsminister Rühe die Bildung einer Eingreiftruppe unter UN-Kommando verhindert, als Butros Ghali 10.000 Soldaten für friedensschaffende Aktionen anforderte?), unterstellt er mir lauter Unsinn. Was meine Meinung zu Bosnien angeht, so bewege ich mich in etwa auf der Linie des Friedensforschers Ernst-Otto Czempiel.
Oltmann möchte mich aber als Verschwörungstheoretiker entlarven. Ausgerechnet Leute, die bei jeder Gelegenheit Milošević mit Hitler, Bosnien mit der Spanischen Republik von 1936 und die Balkanpolitik der Westmächte mit der englisch-französischen Appeasementpolitik gegenüber dem Faschismus vergleichen, finden die Analogie von Reichseinigung 1871 und Wiedervereinigung 1990 ganz und gar unerträglich.
Warum wohl wird auf diesen Vergleich – siehe Günter Grass' „Weites Feld“ – so empfindlich reagiert?
Ich vermute, Joachim Oltmann möchte, wie die meisten Interventionsbefürworter (und das halte ich Ihnen zugute), nachweisen, daß er die Lehren der Vergangenheit besser begriffen hat als jene rückwärtsgewandten Bedenkenträger, die bei jeder Gelegenheit vor einem neuen großmächtigen Deutschland warnen und „aus diesem Grund“ Hilfsmaßnahmen für Bedrängte „zynischerweise“ unterlassen. Doch die Herstellung dieses „Kausalzusammenhangs“ ist so perfide wie die Geißlersche Schuldzuweisung, der Pazifismus sei für Auschwitz verantwortlich. Warum wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Mehrzahl der Gegner einer deutschen Militäraktion für jede erdenkliche humanitäre und politische Hilfe plädieren (und Notwehr sowieso für selbstverständlich halten). Warum kann das bessere, das unvergleichlich neue Deutschland seine politischen Lehren aus 1871 bis 1945 nur militärisch unter Beweis stellen?
Bei Michal, schreibt Oltmann, „ist jeder deutsche Schritt vor die Tür ein Déjà-vu mit dem Kaiserreich“. Das ist in der Tat der Punkt, wo ich hellhörig werde. Wenn Journalisten beginnen, eine Nation, einen Staat „vor die Tür“ treten zu lassen, gar „vor unsere Haustür“, dann weiß ich, wie tief geopolitisches Denken politische Analysen schon wieder beeinflußt. Denn mit der Personifizierung des Machtstaates fängt es an. Diese Personifizierung führt heute dazu, daß ehemalige Kriegsdienstverweigerer exakt jene Fragen stellen, mit denen sie früher schachmatt geprüft wurden: „Wenn Ihre Freundin überfallen wird“, hieß es damals, „helfen Sie Ihr dann, oder schauen Sie zu?“
Damals haben wir den Trick durchschaut. Wolfgang Michal, Autor des
besprochenen Buches „Deutschland und der nächste Krieg“,
Rowohlt, Berlin 1995
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