: „Dann fangen wir wieder von vorne an“
Nach einem Jahr Waffenstillstand in Nordirland zieht die IRA Bilanz: Viel hat sich nicht geändert ■ Aus Derry Ralf Sotscheck
„Es grenzt an ein Wunder“, sinniert Frank Doherty, „daß die IRA ihren Waffenstillstand immer noch einhält. Die innerirische Grenze besteht nach wie vor, die britische Armee ist noch hier, von Polizeireformen keine Rede, die Gefangenen sind noch im Knast und Allparteiengespräche in weiter Ferne. Mit anderen Worten: In den vergangenen zwölf Monaten hat sich nichts geändert.“ Doherty stammt aus der Bogside, einem katholischen Arbeiterviertel in der zweitgrößten nordirischen Stadt Derry. Die Protestanten nennen sie Londonderry, seit eine britische Behörde im 17. Jahrhundert auf Wunsch englischer Siedler die Umbenennung verfügt hatte.
Die Stimmung in Derry ist aber nicht nur in den Arbeitervierteln schlecht. Am Dienstag erschien in der Lokalzeitung, dem Derry Journal, eine ganzseitige Anzeige, in der die britische Regierung aufgefordert wird, den Friedensprozeß zu retten und Allparteiengespräche einzuberufen. Bezahlt und unterzeichnet war die Anzeige von mehr als hundert Menschen aus der Mittelschicht: LehrerInnen, ÄrztInnen, AnwältInnen, ArchitektInnen sowie die Schriftsteller Seamus Heaney, Brian Friel und Seamus Deane.
Die Geschäftsleute haben bisher am meisten von dem Waffenstillstand profitiert, der heute vor einem Jahr in Kraft trat. „Die Innenstadt hat sich in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt“, sagt Nell McCafferty, die feministische Schriftstellerin aus Derry. Im nächsten Monat werden zwei britische Kaufhausketten Filialen eröffnen. „Derry will das Einkaufsmekka des Nordwestens werden“, meint McCafferty.
Keine andere nordirische Stadt hat so stark unter der irischen Teilung im Jahr 1922 gelitten. Durch die künstliche Grenzziehung, die eine möglichst große protestantische Mehrheit in Nordirland sichern sollte, wurde Derry von seinem Hinterland, der Grafschaft Donegal im Westen, abgeschnitten. Die einzige Industrie waren zu der Zeit Hemdenfabriken, in denen fast ausschließlich Frauen zu Niedriglöhnen beschäftigt wurden.
Britische und multinationale Investitionen konzentrierten sich seitdem auf die protestantischen Hochburgen im Osten der Provinz. Selbst die zweite Universität Nordirlands wurde nicht in Derry angesiedelt, sondern im protestantischen Küstenort Coleraine. Hinzu kam die politische Diskriminierung: Obwohl Derry mehrheitlich katholisch ist, wurde die Stadt durch Wahlkreismanipulationen bis in die siebziger Jahre von einem protestantischen Stadtrat regiert. Ende der sechziger Jahre betrug die Arbeitslosigkeit in Derry das Achtfache des britischen Durchschnitts.
„Es ist an der Zeit, daß sich die Mittelschicht und die höheren Berufsstände zu Wort melden“, sagte vor kurzem ein Kleinunternehmer, „niemand darf glauben, daß uns die Sache gleichgültig ist. Wenn die britische Regierung meint, sie könnte die nordirischen Slums mal wieder ignorieren, dann passiert dasselbe wie 1969. Dann fangen wir wieder von vorne an.“ Damals, am 12. August 1969, brach der Krieg in Nordirland aus. „15.000 Apprentice Boys marschierten die Stadtmauer entlang und warfen Pennies hinab in die Bogside vor der Stadtmauer, um uns zu demütigen“, sagt Doherty, der damals 18 war. „Das ließen wir uns natürlich nicht gefallen.“ Die Jugendlichen aus der Bogside warfen Steine und Flaschen nach den Apprentice Boys und der Polizei, die den Marsch schützen sollte.
Die Apprentice Boys sind eine protestantische Organisation, die jedes Jahr im Sommer Umzüge organisiert. Die uniformierten Märsche, die von Kapellen mit schrillen Blechflöten und riesigen Lambeg-Trommeln begleitet werden, wirken für Außenstehende eher komisch. Für die Bewohner der katholischen Viertel auf der Außenseite der Stadtmauer sind sie jedoch provozierend, bedrohlich und triumphalistisch: Mit ihren Paraden feiern die Apprentice Boys jedes Jahr am 12. August ein Ereignis, das bereits über dreihundert Jahre zurückliegt. Als der katholische König Jakob II. im Jahr 1689 Derry belagerte, zeigte sich der englische Stadtkommandant Robert Lundy verhandlungsbereit. Die militanten protestantischen Organisationen, angeführt von den Apprentice Boys, rebellierten gegen Lundy und schlossen die Stadttore. Jakob gab nach 105 Tagen auf, die Stadt fiel später dem protestantischen Wilhelm von Oranien in die Hände, der Jakob vom englischen Thron vertrieb.
Die Situation zum 280. Jahrestag der Belagerung war angespannt. Der protestantische Stadtrat hatte sämtliche Bürgerrechtsdemonstrationen – das Kommunalwahlrecht war damals an Hausbesitz gebunden, und bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzvergabe wurde gegen Katholiken diskriminiert – verboten, während die Parade der Apprentice Boys entlang der Bogside plötzlich genehmigt wurde. Im Handumdrehen entwickelte sich eine Schlacht, bei der innerhalb von 24 Stunden mehr als 200 Menschen verletzt wurden. Die Kämpfe dauerten drei Tage, die Bewohner der Bogside und der benachbarten Viertel Creggan und Brandywell errichteten Barrikaden aus alten Autos, ausgemusterten Möbelstücken und Metallgittern und verteidigten sie mit Molotowcocktails. „Nach drei Tagen schickte die britische Regierung ihre Armee, die Polizei zog sich zurück“, sagt Doherty. „Free Derry war geboren.“
Von der Stadtmauer kann man heute noch die berühmte Giebelwand sehen: „You are now entering Free Derry.“ Auf der breiten Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert machen eine Handvoll TouristInnen in der Abendsonne den gut anderthalb Kilometer langen Rundgang um den historischen Stadtkern – es ist die einzige noch völlig intakte Stadtmauer in Europa. Bis vor kurzem war der Teil, der an der Bogside vorbeiführt, abgesperrt, weil die britische Armee Angriffe auf ihren befestigten Beobachtungsposten auf der Mauer befürchtete. Wegen des IRA-Waffenstillstands ist die Mauer nun wieder in voller Länge begehbar – auch für DemonstrantInnen.
„Vor drei Wochen hat uns die Polizei von der Mauer in die Magazine Street zurückgedrängt“, sagt Paul O'Connor vom Pat Finucane Centre, einer Bürgerrechtsorganisation. „Die Polizei hat an dem Tag hundert Plastikgeschosse abgefeuert, um den Apprentice Boys ihre Demonstration auf der Mauer zu ermöglichen – ein klarer Bruch des Waffenstillstands.“ Es war der schwerste Zwischenfall der vergangenen zwölf Monate in Derry. Dennoch behauptet der Polizeichef von Derry, Thomas Craig, daß sich die Beziehungen der katholischen Bevölkerung zur Polizei in diesem Jahr stetig verbessert haben. Das Derry Journal fragte vorgestern im Leitartikel: „Warum geht er nicht hinein in die Viertel und redet mit den Menschen, wenn er so zuversichtlich ist, daß er dort freundlich empfangen wird?“
Es heißt, daß die IRA noch in diesem Monat Bilanz ziehen wird. Die Einheiten seien in Alarmbereitschaft versetzt, der Nachrichtendienst der IRA habe im Laufe des Jahres fleißig Informationen über mögliche Angriffsziele gesammelt. Ein endgültiger Waffenstillstand muß von einer IRA-Konvention abgesegnet werden. Das ist bisher nicht geschehen.
„Eine Menge Leute in der Bewegung sind unzufrieden“, sagte ein IRA-Mitglied, „aber sie sind verwirrt: Es hat sich zwar überhaupt nichts geändert, aber Sinn- Féin-Präsident Gerry Adams macht dennoch weiter mit dem Friedensprozeß. Also glauben sie, daß da noch irgend etwas für uns drin sein muß.“ Frank Doherty meint, daß die britische Regierung handeln muß. „Vielleicht kommt nach dem Besuch von US-Präsident Bill Clinton im November Bewegung in die Sache“, hofft er. „Sollte eine IRA-Abspaltung jetzt zu den Waffen greifen, würden die Regierungen in London und Dublin erbarmungslos zuschlagen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand das riskieren will.“
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