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SanssouciVorschlag

■ Vorlesen, zuhören, sich fetzen: Lesung(en) im Café Clara

Alle paar Wochen ein farbiges DIN-A4-Blatt, einseitig bedruckt und doppelt gefaltet – die kleine Freude für 500 Abonnenten der Post aus dem Café Clara: Die nächste Veranstaltung von Orplid &Co steht ins Haus. Was als „Gesellschaft zur Pflege und Förderung der Poesie e.V.“ wie das Abschreibeprojekt eines Kleinstadtmagnaten klingt, ist das Kleinod des Berliner Literaturbetriebs. Das sagen alle – dabei kennen viele die Dichterkneipe der Endlers noch nicht. Nun ist der Besuch von Literaturlesungen so eine Sache. Wer, außer ein paar Verrückten, geht schon freiwillig zu den steif-peinlichen Mikrotalks, auf denen sich bleiche Gestalten narzißtischen Fragern und larmoyanten Moderatoren aussetzen – zur Klärung von Sachfragen ohne Wahrheitsgehalt? „Offenbarte Privatgefühle auf dem Podium, anklagende Zurufe aus dem Publikum. Es war nicht zu dem gekommen, was erwartet worden war. Das war zu erwarten“ (Karl Mickel, 1963). Im Café Clara, dem Gasthaus von Orplid, ist das nicht so. Hier liest man, hört zu und fetzt sich – gerne alles zugleich. Dem alten Irrtum, Poesie diene der Verständigung, wird regelmäßig der Garaus gemacht. Die subtilen Hierarchien des Literaturbetriebs, der ganze Insiderkram: derlei ist im Café Clara, funktionierende Kneipe und öffentlicher Raum, kaum zu spüren. Gerhard Wolfs Janus Press und der Prenzlauer Berg liegen im Umkreis und Mayröckers Wien ist gleich um die Ecke. Daß sich West und Ost treffen, war anfangs Programm; inzwischen streitet man auch ohne Programm. Und wenn mit Elke Erb oder Rainer Kirsch, Lothar Klünner und Oskar Pastior Deutschsprachige als polyglotte Nachdichter zusammentreffen, so hat das mehr weltliterarischen Thrill als alles, was man im Literatenstadl in der Fasanenstraße je hörte. Aber genug gelobhudelt.

Heute abend treffen sich nun bei Orplid Annett Gröschner, Sabine Hassinger und Heike Willingham und lesen neue Texte. Annett Gröschner gehört zur Wende-Intelligenz. Zuletzt las man sie häufiger im Prenzlauer-Berg-Sprachrohr Sklaven. Eine Historikerin mit präzisen Notaten aus Berlins „Moskauer Zeit“: „eines tages haben wir den rußlandrucksack wieder ausgepackt“. Daß sie heute abend Gedichte lesen könnte, beunruhigt. Heike Willingham hat bei Janus veröffentlicht; richtige Gedichte, oft „traurige Sachen und Liebesdinge“ (Opitz, 1624). Das elegische „ach-“ scheint eine Frage der Zeit. Statt dessen kommt ein trockenes „aber“: „aber man kriegt doch nichts geschenkt / selbst das gesicht ist nicht allein / schon da und auch / die blumen vor der tür / nimmt man dir fort / die schön gebundenen / die freunde“. Kaum vorstellbar, daß die drei Autorinnen sich sprachlich treffen, wie Frau Endler es verspricht. Heike Willinghams zögernder Glaube ans Lyrische, auch an Natur, verschwindet im Gegenlicht der konturierten Schriftlichkeit bei Sabine Hassinger. „Die Suchspuren an deren Ende Füße erwartet werden. Diese Art Erlösung“, schimpft sie, „kenne ich nicht.“ Fritz von Klinggräff

Vorlieben – Lesung mit Annett Gröschner, Sabine Hassinger und Heike Willingham. Heute um 20 Uhr bei Orplid & Co. im Café Clara, Clara-Zetkin-Str. 90, Mitte

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