: Gewissen der Nicht-Nation Von Mathias Bröckers
Es gibt tatsächlich noch Radiosender, in denen einfach vorgelesen wird. Wunderbar, so was, dachte ich, als unlängst bei einer Autofahrt die Hit- und Werbedröhnung fast durchgeknipst war und plötzlich nur noch eine sonore, ruhige Stimme aus dem Lautsprecher drang.
Als Kleinkind in den fernsehlosen Fünfzigern waren mir die Märchenstunden mir unserer „Grundig“-Musiktruhe immer das Größte, und eben wollte ich meinem Mitfahrer gegenüber zu einer Hommage auf das öffentlich-rechtliche System und seine Pflege der Hörkultur ansetzen, da hören wir plötzlich „Potsdamer Platz...“ „Die Mauer...“ „Fonty“ – das ist doch Günter Grass, und er liest aus seinem neuen Roman.
Wir stellen lauter, lauschen und fahren. Grass liest gut, und was er liest, läßt einen zuhören. Erzählstunde im Radio. Und das also soll so grauenhaft mißlungen, so unerträglich langweilig sein? Stimmt gar nicht, hört sich doch gut an, spannend sogar, und dies nicht nur, weil jede unaufgeregte Stimme per se schon eine Erlösung darstellt für den vom hektischen Dudelfunk Genervten.
Nun habe ich auf das literarische Urteil des Medienclowns Reich- Ranicki noch nie viel gegeben, und da der Unterhaltungswert seines Gegeifers und Genöles nachläßt, wird sich die alte Lallbacke bald selbst erledigt haben. „Wo Ranicki hinspuckt, wächst kein Grass mehr“, wurde anläßlich des Feuilleton-Gewitters um den Roman geschrieben, doch so ist es ja gerade nicht – wo Gift und Galle so massiv und multimedial verteilt werden, tragen sie durchaus zum Wachstum der Auflage bei. Insofern haben die Gewerkschaften und der unvermeidliche Klaus Staeck mal wieder gar nichts kapiert, wenn sie gegen das martialische Titelbild des Spiegels und den Verriß des Frankfurter Pitbulls piesepampelig protestieren. That's business.
Daß Grass wegen seiner politischen Gesinnung „hingerichtet“ worden wäre, ist ziemlicher Unsinn. So lautet schon immer das billigste Verteidigungsargument, wenn es ästhetisch nichts mehr zu retten gab. Und derart rettungslos verloren scheint man auf Grassens „Weitem Feld“ tatsächlich zu sein, deshalb werde ich trotz der schönen Erzählstunde den neuen Roman nicht lesen. Die auf über 700 Seiten ausufernde Suppe, eingedampft auf einen konzentrierten Maggiwürfel – o.k. Das wäre es auch schon 1986 bei dem gescheiterten Tierversuch „Die Rättin“ gewesen, deren bösen Verriß Grass der taz lange nachgetragen hat. Dieses Nachtragende – Wolfgang Neuss schenkte ihm zum Geburtstag einmal einen Aal, nach dessen Genuß er ins Krankenhaus mußte; obwohl es eine tropfende Benzinleitung im Neussschen „Jaguar“ war, die den Fisch verdorben hatte, hielt sich bei Grass die Meinung, Neuss hätte ihn vergiften wollen – dieses Nachtragende ist vielleicht auch der Grund, warum er mit den vielen Übeln der Welt schreibend nicht zu Rande kommt: Grass kann kein Weltübel vergessen und läßt deshalb keines aus. An dieser Überfrachtung krankte die „Rättin“, und sie hat wohl auch das „Weite Feld“ heimgesucht.
Schade, denn wir brauchen keinen Grass, der mit dem ganzen Weltgeist hadert, wir hätten einen gebraucht, der als Gewissen der Nicht-Nation das neue Dumpfdeutschland auf den Punkt bringt.
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