: Der Rest an Scham zerfällt im Gehorsam
■ Beängstigende Ruhe: Das 9. Freiburger Video-Forum war dem Thema „Erinnerung, Vermächtnis, Spurensuche“ gewidmet
Matthias Hintzen ist besessen von Straßenbahnnetzplänen: „Meine früheste Erinnerung ist, daß ich zwei sich kreuzende M-Wagen-Züge in der äußeren Leopoldstraße aus dem Auto heraus beobachtet habe.“ Damals war er drei Jahre alt – „Das ist ziemlich früh, das hat mich selbst überrascht.“ Seither ließ ihn die Tram nicht mehr los. Rosastichige Kinderfotos zeigen ihn Streckenpläne in Telefonbücher kritzeln. Halle, Dresden, Leipzig. Später auch Moskau, Nowgorod, Chicago.
Der junge Ludwigsburger Filmemacher Christian Ganzer ist dem einsamen Passagier mit der Kamera gefolgt. Er läßt ihn erzählen. Mit jeder Haltestelle auf seinem Erinnerungsnetzplan fügt sich Hintzens Obsession zu einer kleinen Theorie der Stadt, die mit situationistischem Witz durch die Welt stolpert: „Ist doch egal, wo wir jetzt aussteigen und nichts los ist“. Denn die Schönheit der Metropläne, das hatte schon Guy Debord fasziniert, liegt allein in der „ergreifenden Darstellung einer Summe von Möglichkeiten“.
Ganzers Film „Die Linien“ war eine der rund 50 Arbeiten, die beim diesjährigen Freiburger Video-Forum gezeigt wurden. Das Thema: „Erinnerung, Vermächtnis, Spurensuche“. Im weitesten Sinne jedenfalls. Im Zentrum des Festivals stand die filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust und den Formen seiner Vergegenwärtigung. Cilly Kugelmann, Ronny und Hanno Loewy interessierten sich dabei vor allem für die symbolischen Funktionen der Gedenkstätten. Fünf Tage lang recherchierten sie für ihren Dokumentarfilm „Auschwitz. Tage im November“ auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers. Hier, wo die Besucher heute an Hot-Dog- Ständen und Souvenirläden vorbei durch Viehwagen, Häftlingsbaracken und Krematorien geschickt werden, wo das Gedenken im Stacheldrahtzaun und Bahngleis seinen sicheren und stereotypen Ort hat, stellt sich für die Filmenden die Frage, wie die zunehmende Kodierung des Gedächtnisses seinen Gegenstand verändert. Was ist Auschwitz heute? Ein Friedhof, eine Ausstellung, ein Mahnmal, eine Pilgerstätte?
Loretta Walz' Versuch, der Geschichte ein größeres Maß an Klarheit abzuringen, erwies sich dagegen eher als problematisch. In „Man nannte uns Kaninchen“ befragt sie drei Polinnen, die als Häftlinge im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück Opfer medizinischer Experimente wurden. Unter der erläuternden Redseligkeit des Kommentars jedoch geraten die Lebenserinnerungen der drei Frauen schließlich zur Lehrbuchillustration. Was übrig bleibt, ist eine kompakt geschnittene Chronologie der Ereignisse.
Anders in Hans-Dieter Grabes „Er nannte sich Hohenstein“. Seine Dokumentation zeichnet anhand von Tagebuchzitaten eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen von 1940 bis 1942 das Bild eines Mitläufers, der immer dabei war und nie etwas gesehen hat: Bei der Exekution von sechs jüdischen Bewohnern seines Ortes wendet er den Blick ab. Als sein Stallknecht Chaim ins Vernichtungslager abtransportiert wird, ist er froh, das nicht mit ansehen zu müssen – er ist kurz zuvor in die Ferien gefahren.
Das Tagebuch des Nazibeamten, ein vor volksdeutscher Erbaulichkeit triefendes Stück Alltagsgedächtnis, bleibt Grabes einziges Textmaterial. Mit kargen Schwarzweißaufnahmen bebildert – meist menschenleere Straßen und Plätze im heutigen Poddembice, dem ehemaligen Amtssitz Hohensteins – fügen sich die wenigen Bruchstücke dieser Lebensgeschichte auf Kinofilmlänge zu einer eindringlichen Studie über den autoritären Charakter. Der Rest an individueller Scham, der in Hohensteins abgewandtem Blick zunächst noch aufflackert, zerfällt Stück für Stück im vorauseilenden Gehorsam.
Die Produktion des ZDF- und Arte-Redakteurs Grabe kam für den Förderpreis des Videoforums (4.000 Mark) dennoch nicht in Frage, denn der wird traditionell gern an unabhängige Videoschaffende vergeben. Die Jury entschied sich für Ueli Nueschs „Das Erbe“, einem klar erzählten Tatsachenkrimi. Unaufdringlich, aber hartnäckig zeichnet Nuesch hier mit der Kamera auf, wie der junge Goldschmied Michael Keller beim Ordnen des Nachlasses seines Vaters auf ein endloses Gewirr von Ungereimtheiten stößt. Die peinlich genauen Besitz- und Erlebnislisten, die der Vater auf jedem nur verfügbaren Pappdeckel notiert hat, führen Michael Keller schließlich in dessen geheimes Leben als Transvestit hinein. Wie nebenbei rückt während der Recherche auch die nie bewiesene Unschuld des Vaters am Tod seiner Mutter wieder ins Gedächtnis.
Ein weiteres Preisgeld und sowie der diesjährige Publikumspreis, die Schrottskulptur „Eiserner Konrad“, gingen an Tien Tran Dungs „Twenty Years Later“, eine fast schon beängstigend ruhige Reportage über vietnamesische und amerikanische Opfer des Kampfgases „agent orange“. Das unfaßbar weiche und warme Licht, das sich hier wie ein sanfter Schleier über den Bildern ausbreitet, ist bewußt gewählt. Es fällt auf ein falsches Idyll, vor dessen Hintergrund sich die Berichte der Opfer ungewöhnlich plastisch abheben. Erst im letzten Bild wartet die Hoffnung. „Das wird ein gesundes Kind“, sagt die Krankenschwester zu einer Schwangeren, die sie gerade untersucht hat, „sein Herz schlägt stark.“ Mit diesem versöhnlichen Ende darf Entwarnung gegeben werden im Bereich der Doku-Videofilme: Spektakuläre Kritik greift inzwischen auch wieder zu unspektakulären Mitteln. Dietrich Roeschmann
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