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Die öffentliche Frau

Vor 20 Jahren starb Um Kalsum, Gesangslegende, Karrierefrau und erster Superstar der arabischen Welt. Aus allen Transistoren zwischen Kairo und Casablanca rieselte ihre Stimme. Doch wie hielt sie es mit den Medien? Und was sagen die Gender Studies dazu?  ■ Von Mohamed Ali Doukkali und Thomas Groß

Alles, was sie später ausmachte, muß von Anfang an dagewesen sein: „Die Stimme war jugendlich und wenig gefestigt, aber einzigartig, von einer ungemeinen Kraft getrieben, ein Atem, der sich unaufhörlich selbst verströmte. Der Junge ging die zweite Strophe sehr tief an und stieg von da langsam auf, hielt die Note und brachte sie zum Vibrieren ... Das waren nicht mehr die Wörter, das war die Sache selbst, das Gefühl, mein innerstes Geheimnis vor allen ausgebreitet. Der Gesang kam nicht mehr einfach aus der Kehle, der ganze Körper schien zu zittern, zu schwingen fast, um das nach außen zu bringen. Eine bewegungslose Trance. Diesem bartlosen Jungen gelang es, Schmerz und Zartheit zu verkörpern, deren Ausdruck ich mir zum ersten Mal gestattete – durch ihn. Es war in ihm drin.“

Der Junge, von dem die Rede ist, war in Wirklichkeit ein Mädchen. Der libanesische Schriftsteller Sélim Nassib hat den Beginn einer Karriere festgehalten, besser: heraufbeschworen, der in Männerkleidern stattfand, weil nach traditionellem Recht nur Männern erlaubt war, vor Publikum die Verse des Propheten zu singen.

Die Callas des Mittleren Orients

Um Kalsum heißt die Frau, die trotzdem zum Star wurde. Noch heute, 20 Jahre nach ihrem Tod, führt jeder Kassettenladen zwischen Kairo und Casablanca ihre Aufnahmen. Gesangsausbildungen beginnen mit Um-Kalsum-Interpretationen, jede Stadt kennt Um-Kalsum-Imitatorinnen. Um (=die Mutter) Kalsum war die Callas des Mittleren Orient – nein, sie war mehr als das: der erste Superstar der arabischen Welt, eine Stimme, die aus allen Transistoren rieselte. Sie durfte, was anderen verboten war. Sogar das Scheitern wurde ihr verziehen. Um Kalsum ist eine Legende, aber es ist mehr als nachträgliche Verklärung, daß man ihr den Ehrentitel „Stimme der Araber“ verliehen hat.

Dabei war ihr Charisma keines der „Inhalte“. Um Kalsum hat sich nur ein einziges Mal „politisch“ geäußert. Sie hat keine Artikel in Zeitungen geschrieben, war keine Meinungsführerin oder Intellektuelle. Die Stücke, die sie sang, stammten nicht von ihr, sondern von Dichtern, Männern, auf die sie immer angewiesen blieb. Sie hat kein Instrument gespielt, nahm das Mikrofon beim Singen nicht in die Hand, die Bühnenshow war minimal. Auch war sie nicht sexy – jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem Popstars sexy sind: Zeit ihres Lebens war sie stolz darauf, auf der Leinwand kein einziges Mal geküßt worden zu sein. Was für westliche Begriffe kaum zu fassen ist: Sie war „einfach“ nur eine Stimme, die von der Liebe sang. A ra'a l'hubbu Sukkara, sukkara mithlana? „Hat man jemals zwei Liebestrunkene, Liebestrunkene wie uns gesehen?“ – wenn sie solche Zeilen sang, zerknüllte sie stets ein Tuch zwischen den Fingern, als wollte sie ihr Ich für alle sichtbar auslöschen, nur noch Übermittlerin sein.

„Sie hatte das Geheimnis gestohlen, besaß es, verwandelte es in Klang“, schreibt Nassib. Mit anderen Worten: Um Kalsum war eine mediale Frau. Aber wer oder was sprach durch sie?

Medienverbund mit männlicher Macht

Das Lob Allahs und des Propheten, unendlich variiert und ausgestaltet, war für „Die Stimme“ ein Kindheitssound. Um Kalsum stammt aus einer Familie religiöser Sänger aus dem Nildelta. Als ihr Vater ihre Stimme bemerkt, darf sie mitziehen und (verkleidet) singen, sicher auch deswegen, weil sie als unbestrittener Star der kleinen Truppe die kärglichen Einnahmen aufbessert. Der Esel, der von „ihrem“ Geld gekauft wird, erhöht die Reichweite um ein paar Kilometer, doch als Öffentlichkeit bleiben ihr zunächst nur die traditionellen Anlässe: Hochzeiten, Geburten, Pilgerfahrten. Trotzdem ist die Provinz bald erobert, zu Beginn der Zwanziger zieht Um Kalsum nach Kairo.

Es scheint ihr eigener Ehrgeiz gewesen sein, der sie, das Landei, in die Haupstadt zog – Konzerte, Kabaretts, Auftrittsmöglichkeiten. Der familiäre „Schutz“ reist mit. Das erste Konzert am 6. Dezember 1922 ist ein Erfolg, sie singt a capella, in Begleitung der Stimmen von Vater und Bruder. Doch damit ist Kairo nicht zu erobern. Dhikr (religiöser Gesang) ist schön und gut, aber das Publikum will Daur (profane städtische Musik), und die wird instrumental begleitet.

Vater und Bruder sind empört, wollen sie und sich vor den Lastern der Stadt zurück aufs Land retten. Doch Um Kalsum beginnt unverzüglich mit der Ersetzung familiärer Protektion durch die Möglichkeiten der Stadt, geht Koalitionen mit einflußreichen Männern ein, die sich ihrerseits etwas von ihr versprechen. Die Stimme singt nun nicht mehr nur Tradition und Gott, sie ist auch das Gefäß höfisch-urbaner Träume. Der berühmte Sheik Abu El Ela hilft ihr bei der Erreichung des Kairoer Standards in Repertoire und Begleitung, der Dichter Ahmed Rami, der ihr Freund wird, möchte die gewagten Vierzeiler des persischen Epikureers Omar Al Khayyam (die er gerade übersetzt hat) aus ihrem Munde hören – ein Wunsch, den Um Kalsum nur in Raten erfüllt.

Ohne diesen (Medien-)Verbund mit männlicher Macht wäre sie auch aus dem Boulevardstück, in das sie verwickelt wird, kaum als Siegerin hervorgegangen. Munira, genannt „die Sultanin“, Königin der Operette und des erotischen Lieds, ist ihr Counterpart, Montagabend (Munira) singt in Kairo gegen Donnerstagabend (Um Kalsum). Der Donnerstag hat den besseren Atem. Als Um Kalsum 1932 mit noch nicht 30 Jahren beim Abschlußabend des Kongresses der arabischen Musik vor König Fuad singt, allein und ohne Schleier, ist sie die unbestrittene Herrscherin des arabischen Songvortrags.

Mystisch-politische Träume auf Sendung

1934 wird sie exklusiv bei der Einweihung von Radio Kairo gesendet – eine Schlüsselszene: Das religiöse Rieseln wird Radiorieseln, die Stimme verbindet sich mit dem Verbreitungssystem, das die ererbte Mündlichkeit schon bald ins letzte Nest hinaustragen wird. Medialer Schub auch durch den Film: Lange vor Elvis ist Um Kalsum die singende Heldin in einem halben Dutzend populärer Kinofilme (1935 bis 1948). Kein politischer Zwischenfall kann diesem medialen Super-Kombinat etwas anhaben. Als singende Ikone mit Sonnenbrille überlebt „Die Stimme“ den Wechsel aller Regime.

Mehrere Male war sie verheiratet, doch ihre Liebhaber blieben blaß wie ihre geschlechtliche Identität. Glamour entfalteten immer nur ihre „Public Love Affairs“, die medialen Bündnisse mit Einflußgebern und Machthabern. 1952, nach dem Sturz von König Faruk, rückt in diese Position Gamal Abdel Nasser. Mit weitreichenden Folgen: Aus Radio Kairo wird Sawt el Arab („Die Stimme der Araber“), der Präsident und die Diva begeben sich vereint in elektrische Verstärkung. Seine Reden werden immer länger, ihre Lieder auch. Stundenlang. „Hat man jemals zwei Liebestrunkene, Liebestrunkene wie uns gesehen?“ – Allahs Himmel sendet mystisch-politische Träume. Mit dem Ohr am Gerät auf Empfang: die gesamte arabische Welt.

Was Klaus Theweleit für die Verbindung Evita und Juan Peron, das Traumpaar an der Spitze Argentiniens, beschrieben hat, zeichnet sich auch hier ab: In Gesellschaften, in denen der Masse der Arbeitenden und Armen eine dünne aristokratische Oberschicht gegenübersteht, übernehmen Kommunikationsmedien die Vermittlung zwischen göttlichem Gesetz und populärem Begehren. Sie sind der Kanal, durch den die weltliche Macht die vorherrschende Religiosität beerben oder sich mit ihr verbinden kann. Gott, Herrscher und Medium fallen schließlich zusammen in der „Stimme der Araber“: Indem das Programm „mystische Liebe“ Um Kalsums auf demselben Kanal läuft wie die politische Rede, macht es bei den Massen unmittelbar Propaganda für Nassers panarabische Machtträume.

With Um Kalsum on his side

In den sechziger Jahren ist Um Kalsum, selbst fast so alt wie das Jahrhundert, getragen von Radiowellen schließlich auf der Höhe ihrer Popularität. Jeder erste Donnerstag des Monats ist Um-Kalsum-Tag, weil da ihr brandneuer Hit vorgestellt wird. Gassenfeger allesamt. Souverän spielt sie mit den Erwartungen des Publikums, reizt selbst triviale Effekte aus, interpretiert Standardfloskeln in ungeahnter Manier. Wie ein charismatischer Redner beherrscht sie die Kunst, ihren Vortrag dramaturgisch zu steigern, bis mit dem Höhepunkt reflexartig der Applaus einsetzt.

Doch während in den USA und Europa ein neues, entfesseltes Individuum Rock 'n' Roll und Protestsong entdeckt, ist sie Bestandteil einer im Kern konservativen, entindividualisierenden Tradition. In einer Welt, in der niemand aus Liebe heiratet, singt sie „über den Äther“ (später auch per Fensehen) deren Sehnsucht, dehnt die überlieferten Gebote bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, aber sie verletzt sie nicht wirklich. El Atlal, „Die Ruinen“, heißt ihr bekanntestes Lied aus dieser Phase: Aatini hurryati Atliq yadaya! „Gib mir die Freiheit zurück, entfessele meine Hände!“ – Ina-ni Aataytu ma Stabqaitu Chai'a. „Ich habe alles gegeben, ich besitze nichts mehr.“

Das ist im panarabischen Medienverbund ebenso Drängen nach mystischer Vereinigung wie nationales Programm. Bereits 1963 hat Präsident Nasser die Versöhnung Um Kalsums mit Mohammed Abdel Wahab, dem größten Komponisten Ägyptens, in die Wege geleitet – ein neuer, noch größerer Klassiker (Anta Omri, „Du bist mein Leben“) geht auf Sendung. Alles soll für den Präsidenten arbeiten, alles arbeitet für ihn. 1967 ist es soweit: Nasser läßt es auf einen Krieg mit Israel ankommen – with Um Kalsum on his side.

Opium fürs Volk – und Trümmerfrau

Sawt el Arab sendet Erfolg auf der ganzen Linie. Daß das Gegenteil der Fall ist, kann nach den Gesetzen des Mediums und der Propaganda erst wahr sein, als Nassers Gesicht auf der Fernsehscheibe sein berühmtes Geständnis ablegt: „O Kinder meines Volkes ...“

Die Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg ist der größte – und im Grunde einzige – Karriereknick der Sängerin, die längst zum Kaukab A'Scharq, zum „Stern des Orients“, aufgestiegen war. Vor ihrem Haus kommt es zu einem Volksauflauf. Die ägyptische Linke attackiert sie mit einem Zitat der berühmten Worte Emile Zolas im Dreyfus-Prozeß: J'accuse ...: „Ich klage den Stern des Orients an, das Opium des Volkes gewesen zu sein.“

Um Kalsums Antwort ist eine melodramatische Geste. Mitten in einem von ihr anberaumten Radiokonzert hält sie die einzige Ansprache ihres Lebens. „Gott ist mein Zeuge“, erhebt sie die Stimme. Es folgt ein blumiges Plädoyer für Einheit, Vaterland und den Tag, der die Nacht besiegt. Dann, im entscheidenden dramaturgischen Moment, läßt sie die Ohrringe, ein Geschenk des Emirs von Kuwait, den ganzen Schmuck an ihrem Körper in ein Tuch gleiten – und fordert die Frauen Arabiens auf, es ihr gleichzutun. Der gesendete Beweis: Nicht Opium, sondern Gold und Geld ist sie für das Volk, Um Kalsum – eine Trümmerfrau, Spenderin mütterlicher Wiederaufbauarbeit.

Mit dieser letzten Wendung, acht Jahre vor ihrem Tod, hat die „Mutter“ Kalsum auch den „Vater“ Nasser überlebt. Zwar hat er ihr noch den Titel einer Botschafterin (inklusive Diplomatenpaß) verliehen, doch ihre Mikrofonsymbiose ist zu Ende, das Radio sendet Aufzeichnungen. Während dessen bereist sie Rabat, Tunis, Tripolis, tritt im Pariser „Olympia“ auf – erfolgreich, bejubelt, aber bereits lebende Legende.

Die Lieder sind martialischer geworden, können sich aber an keine weltliche Macht mehr ankoppeln. Der Gesang kehrt zu seinen Ursprüngen zurück, wird wieder reine Arabeske, Versenkung, Wiederholung, ein unablässiges Nähen der Welt. Aus jeder Silbe spricht auch die Botschaft: Wir sind Träumer, Liebe und Welt sind ein Traum. Bloß Allah kann es richten.

Göttin ohne Staat und Monopol

Viele Stimmen haben mit und durch Um Kalsum gesprochen, aber welche war ihre „eigene“? Wurde sie gestohlen von Gott, Vaterland und Patriarchat? Oder kam sie hier erst zu sich? Auf welche Art Liebe hat diese Frau ihre Karriere gebaut? War sie eine Frau, oder war sie ein Medium? Liebte sie die Männer – oder am Ende doch eher die Frauen? Wo trifft sich die Macht mit deren Auflösung? Und was sagen die Gender Studies dazu?

Sicher ist, daß Um Kalsum eine unwiederholbare Konstellation verkörpert: In einer kritischen Phase der postkolonialen Welt Nordafrikas versöhnte sie mit ihrem Gesang die Widersprüche, hielt das Bild einer verschwindenden Tradition fest und projizierte es zugleich auf eine Zukunft, die keine war.

Zu vermuten ist auch, daß ihr Erstarren zum Denkmal mit dem aufstrebenden Kassettenmarkt zu tun hat: Auf Tonband ist Um Kalsum zwar immer noch eine Göttin, aber eine ohne Staat und Monopol; sie muß sich die Herrschaft teilen mit anderen Stimmen, „multikulturellen“, westlicheren, weltlicheren: Rai und Synthie-Schnulzen – die experimentelle arabische Musik geht ohnehin längst andere Wege.

Im Februar 1975 aber, bei ihrer Beerdigung, war ihre Macht über die Massen noch so groß, daß ihr Sarg der Eskorte entrissen und in wilder Ordnung durch die Straßen Kairos getragen wurde. „Wie ein trunkenes Schiff“, schreibt Nassib, sei die Holzkiste mit der Leiche über den Köpfen getanzt. Ein wüst-archaisches, auch vampiristisches Bild: „Das Volk“ berauscht sich ein letztes Mal an der Baraka, dem günstigen Fluidum des Stars, bis auch dieses verbraucht ist und die leere Flasche ins Meer geworfen wird.

Die marokkanisch-französische Sängerin Sapho kommt mit einem Um Kalsum gewidmeten Programm auf Tour: „El Atlal (The Ruins of Love)“. Termine: 11.9. Hamburg, Fabrik; 12./13.9. Berlin, Haus der Kulturen der Welt; 14.9. Schorndorf, Manufaktur; 15.9. Karlsruhe, Tollhaus.

Die Romanbiographie von Sélim Nassib heißt „Oum“ und ist bei Balland, Paris, erschienen.

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