Lidokino: Dreitagebärte
■ Ein Brief aus der Verbannung über italienische und russische Filmkunst
Desperately seeking Filmkunst: Passend zu dem Gefühl von Verzweiflung, das sich langsam der hier Versammelten bemächtigt, verbreitet sich zum Ende hin das Gerücht, für heute, Samstag, stehe ein Streik der italienischen Fluglotsen bevor. Man könne also nicht mehr hier weg, nie mehr. Ich werde mich dann Dreyfus nennen, festgehalten auf einer Toteninsel, einen Zettel um den Hals, auf dem steht, was ich morgens immer auf dem Hygienebeutel im Badezimmer lese: „Bitte nicht ins Klosett werfen. Wird vom Zimmermädchen entfernt.“
Immer wieder erstaunlich und ideologisch eher unangenehm ist es, festzustellen, daß es durchaus so etwas wie nationale Eigenschaften von Filmen gibt. Beispielsweise ist, soweit ich das sehen konnte, niemand mehr in die italienischen Filme gegangen, die außerhalb des Wettbewerbs liefen. (Die im Wettbewerb müssen gesehen werden, weil eine Jury, in der solche angelernten Italiener wie Margarethe von Trotta sitzen, zu allem fähig ist.) Was die italienischen Filme eint, ist eine sich ständig wiederholende Grundkonstellation: Ein Professor für irgendwas kann keinen rechten Sinn mehr in seinem Leben Leben sehen. Er sitzt oft nachts auf der Bettkante und starrt den Mond an, während er ein Glas Whiskey zerdrückt. Seine Frau wacht, ob des auf weiße Laken herabtropfenden Blutes auf, fragt aber jetzt nicht: „What is it, Darling“, wie das in einem amerikanischen Film der Fall wäre, sondern zündet sich angewidert eine Zigarette an. Er drückt, sie schweigt. Er läuft in den Regen hinaus. Immer, immer, immer regnet es in dieser Art Film. Jetzt steht sie weinend am Fenster und ruft hysterisch all seine Freunde an, aber es ist zu spät. Denn nun findet ihn a) eine Prostituierte, b) die Mafia, c) ein mysteriöser alter Mann, der ihm einen seltsamen Rat gibt, d) ein Kind. Stundenlang läuft er durch Straßen, wird von seinen Mititalienern angerempelt, hat einen Dreitagebart, verkommt völlig und ist nicht einmal mehr nett zu seinem Freund, den er von einem Straßentelefon aus angerufen hat, obwohl er doch gar nicht wissen kann, daß seine Frau längst im Bildhintergrund mit dem auf dem Bett liegt. Und so weiter.
Russische Filme der letzten Jahre kommen mir immer wie Verfilmungen von dem Leben vor, das Schirinowski geführt hätte, wenn er nicht in die Politik gegangen wäre. Sie sind gern ländlich, gespickt mit deftigen Scherzen, burlesken, aber schlecht zusammengehaltenen Arrangements, Männerfreundschaften, die schnell und unübersichtlich in Feindschaften umschlagen können, bei denen man sich Ohren abbeißt, weinenden Mütterchen und blondierten Frauen, die immer große Augen machen, rote Wickelhemdchen tragen, viel kreischen und nachts verwirrt im See zu baden versuchen, aus dem dann riesige abgeschlagene Schweinsköpfe auftauchen – eine säkularisierte religiöse Erfahrung oder die Wiederkehr der abgeschlagenen Leninköpfe? Es wird viel getrunken und gebrüllt, und eine Gemeinheit jagt die nächste, so daß selbst friedliebenden Zuschauern zum Schluß nur noch ein Impuls bleibt, den ich eben den Schirinowski-Impuls nennen möchte: Ruhe im Karton! Schluß jetzt da hinten!
So war es auch in „Musulmanin“ von Victor Chotinenko, allerdings bot dieser vielversprechend die Geschichte eines Heimkehrers an, der in achtjähriger afghanischer Kriegsgefangenschaft zum Moslem wurde. Sie verkommt aber zum folkloristischen Element. Der Pope schaut vorbei, aber statt ein Gespräch zwischen orthodoxer Tradition und Islam aus Ratlosigkeit stattfinden zu lassen, geht es wieder nur darum, wer jetzt das Hühnchen anschneiden darf, ein Streit, der im Stall endet (russische Filmemacher finden oft, daß alle Russen Tiere sind). Das Schlußbild ist selbstverständlich, daß das ganze Dorf hinter Dollarnoten hertaucht, die im See schwimmen.
Nachdem wir uns, in der oben erwähnten Verzweiflung über dies alles, in den Soave gestürzt hatten, folgte am späten Abend noch ein Ettore Scola, über den ich Ihnen nur zu sagen weiß, daß er, solange ich wach war, aussah wie ein Tatort. Es geht um einen jungen Mann, der Vincenzo Persico heißt und seinen Platz in der Gesellschaft nicht mehr so recht findet. Aus diesem Grunde zerdrückt er verständlicherweise ein Whiskeyglas und läuft hinaus in den Regen, wo ihn dann... Mariam Niroumand
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