„Möchte gern, kann nicht“

Bündnisfähig für PDS wie CDU, ein Flügel für Kampfeinsätze, der andere dagegen: Wo stehen die Grünen? Ein Plädoyer für eine Grundsatzdebatte  ■ Von Krista Sager

An den Maßstäben einer politisch leidlich interessierten Mitbürgerin gemessen, sind Bündnis 90/Die Grünen schon ein eigentümlicher Organismus. 15 Jahre nach Gründung der Grünen und fast drei Jahre nach der Vereinigung mit Bündnis 90 hat die Partei noch kein gültiges Grundsatzprogramm. So evident dieser Mangel, so groß ist der Widerstand, ihn zu beseitigen. Bemerkenswerterweise kommt der nicht, wie man eigentlich erwarten könnte, vorrangig aus den Reihen der PragmatikerInnen und TagespolitikerInnen. Es wäre durchaus nachvollziehbar, wenn diese meinten, man käme mit fleißiger Parlamentsarbeit, mit dem Hangeln von einem realpolitischen Konzept zum nächsten am besten durchs Tagesgeschäft und langfristig über die Runden. Kurioserweise scheinen aber gerade diejenigen, die schon heute ein Übergewicht der Bundestags- und Landtagsfraktionen gegenüber der Partei beklagen und den programmatischen Ausverkauf durch Regierungsambitionen befürchten, von der Angst getrieben, nichts wäre so geeignet, das opportunistische Abräumen grüner Positionen verhängnisvoll in Schwung zu bringen, wie die Debatte über ein Grundsatzprogramm. Nachdem ganzheitliche Erklärungsmodelle sowieso mega- out sind, fürchtet gerade die Linke, sie solle mit abseitigen schöngeistigen Debatten nur von der eigentlichen Machtpolitik abgelenkt werden.

Nun verfügen die Grünen bereits über ein identifizierbares ökologisch-solidarisch-libertäres Werteprofil und über ein relativ großes Reservoir an unstrittigen politischen Zielen, von der ökologischen Steuerreform über den Ausstieg aus der Atomenergie bis zu einem modernen antinationalistischen Staatsbürgerrecht. Warum sollten also gerade die Grünen nicht darauf setzen, mit tagespolitischen Konzepten und einer guten Bühnenshow die nächsten 10 bis 15 Jahre Krise des Parteiensystems zu überstehen. Doch gerade das ist fraglich geworden, seit Bündnis 90/Die Grünen aus den engen Grenzen einer grünen Milieupartei ausgebrochen sind. Schon innerhalb der Partei ist das Verhältnis oft genug durch Fremdheit und Ressentiments geprägt. Die soziale und kulturelle Vielfalt der grünen Wählerschaft mit ihren zahlreichen lokalen und regionalen Besonderheiten wirft erst recht das Problem programmatischer Identifikation und Integration auf. Es spricht nichts dafür, daß die Auflösung von Lagerbindungen und Ideologien, die mit dem zunehmenden Individualisierungsprozeß verbundene Fluktuation der WählerInnen zwischen den Parteien sowie der Gruppe der WählerInnen und der NichtwählerInnen zukünftig ausschließlich das Problem der anderen Parteien bleiben wird, auch wenn Bündnis 90/Die Grünen derzeit von diesem Prozeß und dem damit einhergehenden postmaterialistischen Wertewandel am meisten profitieren. Ein Werteprofil, das von 95 Prozent der Besucher des Hamburger Kirchentages mitgetragen werden kann, sorgt zwar gegenwärtig für Sympathie, aber nicht unbedingt für politische Trennschärfe in einem langfristigen Parteienwettbewerb. Bei einer Partei, die in Weimar ihre Politik mit der PDS und in Gladbeck mit der CDU durchsetzen will, wird die Klammer zwischen den verschiedenen Alltagsoptionen immer unklarer. Wenn Vielfalt nicht in Beliebigkeit und Atomisierung enden soll, müssen gerade Bündnis 90/Die Grünen ihrer Wählerschaft mehr an programmatischer Moderation und Selbstverständigung bieten. Gerade die Bosniendebatte zeigt, daß Bündnis 90/Die Grünen darüber streiten, aber keinesfalls dazu schweigen dürfen, wie der Zielkonflikt zwischen Leitideen wie Universalität der Menschenrechte, multikulturelles Zusammenleben und Gewaltfreiheit aufzulösen ist. Ganz offensichtlich gibt es nicht nur ein Bedürfnis des grünennahen Milieus, sondern ein sehr viel weitergehendes öffentliches und gesellschaftliches Interesse an solchen Selbstverständigungsprozessen. Hier stellt sich also für Bündnis 90/Die Grünen eine politische Aufgabe, die weit über innerparteiliche und machtpolitische Belange hinausreicht.

Daß es sich durchaus lohnt, politische Antworten auf ihre grundsätzlichen programmatischen Voraussetzungen abzuklopfen, läßt sich am Beispiel grüner Außenpolitik exemplarisch zeigen.

Zentrale außenpolitische Kategorie des Grundsatzprogramms von 1980 war das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen. So wurde zum Beispiel gefordert, die UNO „muß zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker ausgebaut werden“. Die Betonung des Selbstbestimmungsrechts war Ausdruck der Tatsache, daß grüne „Außenpolitik“ von der Solidarität mit Befreiungsbewegungen gegen rassistische und faschistische Regime geprägt war. Gerade die radikale Linke in den West-Grünen der frühen Jahre sah in der Betonung des Selbstbestimmungsrechts ihre „antiimperialistischen“ Ziele am ehesten aufgehoben und mochte die Betonung der „friedlichen Unterstützung“ des „Widerstands der Völker“ nur zähneknirschend in Kauf nehmen. Real konnte damals keine Rede davon sein, daß die junge grüne Partei bereit gewesen wäre, die Unterstützung von Befreiungsbewegungen und die Befürwortung antikolonialistischer bzw. antiimperialistischer Gewalt dem Prinzip der Gewaltfreiheit unterzuordnen. Im Gegenteil – ausdrücklich wurde festgehalten: „Das Prinzip der Gewaltfreiheit berührt nicht das fundamentale Recht auf Notwehr“ und: „Aktive Friedenspolitik heißt auch, daß wir (...) für die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Volksgruppen in allen Staaten eintreten.“ Im Zuge der alles überlagernden Blockkonfrontation mit ihrem immer bedrohlicher erscheinenden atomaren Auslöschungspotential hat es in den 80er Jahren eine Werteverschiebung weg vom Selbstbestimmungsrecht hin zum Prinzip der Gewaltfreiheit gegeben. Trotzdem ist die Interpretation der Gewaltfreiheit, als allen anderen grünen Prinzipien wie Universalität der Menschenrechte, Schutz von Minderheiten, Selbstbestimmungsrecht der Völker absolut übergeordnet, eine relativ junge Entwicklung, die mit der realen grünen Geschichte nur wenig zu tun hat. Daß es nach der Werteverschiebung in den 80er Jahren zu einem radikalen Paradigmenwechsel in den 90ern kommen konnte, muß wohl auch vor dem Hintergrund verstanden werden, daß nach der historischen Erledigung der „Systemfrage“ das Interesse an militanten „antiimperialistischen“ Befreiungsbewegungen nicht nur dahinschwand, sondern auch die auszumachenden Befreiungsbewegungen zwar nach wie vor das Recht auf Selbstbestimmung für sich in Anspruch nahmen, aber nur noch sehr vereinzelt sozialistische oder antiimperialistische Zielvorstellungen verfolgten.

Deutlichsten Niederschlag fand die programmatische Neubewertung in der Eliminierung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen“. Zwar ist die Universalität der Menschenrechte und das Recht von Minderheiten im 94er Wahlprogramm von Mannheim auch im außenpolitischen Teil von zentraler Bedeutung, was sicher nicht zuletzt auf das Wirken von Bündnis 90 zurückzuführen ist („Aktive Menschenrechtspolitik ist ein vordringliches Ziel bündnisgrüner Außenpolitik“). Trotzdem scheint es nur wenige Jahre nach Überwindung der deutschen Spaltung (eine Forderung des Grundsatzprogramms von 1980) und ein Jahr nach der parteilichen Assoziation nicht unbedingt selbstverständlich, daß die ehedem zentrale politische Kategorie „Selbstbestimmung der Völker“ aus der Außenpolitik einfach verschwindet.

Zwar beklagt das Mannheimer Programm, daß rassistische und nationalistische Kräfte starken Auftrieb bekommen haben und daß ethnische Konflikte in Kriege münden, die bis zum Völkermord gehen, aber es wird gleichzeitig kein Zweifel daran gelassen, daß das Prinzip der Gewaltfreiheit im Zweifel dem Ziel der Beendigung eines ethnischen oder nationalistischen Krieges übergeordnet ist. Keineswegs aus rein pragmatischen Überlegungen und völlig unabhängig vom politischen und organisatorischen Rahmen werden militärische Mittel zur Wiederherstellung von elementaren Menschenrechten kategorisch abgelehnt. Weder UNO noch OSZE sollen als Systeme kollektiver Sicherheit über die Möglichkeit verfügen, militärischen Druck als äußerstes Mittel einzusetzen, um gewaltsame Konflikte einzudämmen. Ihnen sollen ausschließlich friedliche Mittel der Streitbeilegung zur Verfügung stehen. Trotzdem wird die Erwartung formuliert, daß im Zuge des Ausbaus der KSZE-Institution und einer damit einhergehenden Auflösung der Nato staatliche Souveränitätsrechte an die KSZE abgetreten werden. Eine Vorstellung, die in bezug auf die staatliche Gewaltoption nach den Erfahrungen aus dem Balkankonflikt reichlich blauäugig anmutet und wohl nur geringe Ausstrahlungskraft auf die gegenwärtige Debatte über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur haben wird. Eine Beteiligung der Bundeswehr an UNO- Blauhelmmissionen wird im Mannheimer Programm pauschal und prinzipiell abgelehnt.

Trotz einiger Erklärungsversuche ist es durchaus verwunderlich, daß sich der oben beschriebene Paradigmenwechsel ausgerechnet bei den deutschen Grünen durchsetzen konnte, und zwar ausgerechnet parallel zu dem Aufflammen ethnischer und nationalistischer Kriege im Zuge der Überwindung der globalen Bipolarität. Wäre man bösartig, könnte man die polemische Frage aufwerfen, ob denn ausgerechnet aus deutscher Sicht der Kampf ums bloße Überleben nach rigideren Kriterien zu bewerten sei, als der Kampf für darüber hinausgehende ideologische Zielvorstellungen. Nüchtern betrachtet muß man sehen, daß zum Beispiel die Position, man solle weder den militärischen Schutz der bosnischen Schutzzonen durch die UNO gewährleisten noch das Waffenembargo gegen Bosnien aufheben, innerhalb der westeuropäischen Linken und auch der westeuropäischen Friedensbewegung weitgehend isoliert dasteht.

Dabei werden aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges zwei völlig unterschiedliche Lehren gezogen. Während man in den anderen westeuropäischen Ländern, gerade aufgrund der Erfahrung mit dem deutschen Aggressionskrieg, viel eher aus dem Blickwinkel des Opfers denkt, das sich gegen die nationalistische Aggression behaupten muß, notfalls auch mit Gegengewalt, sehen Teile der bundesdeutschen Linken das Aufflammen ethnischer Kriege ausschließlich mit der innenpolitischen Brille des geläuterten Nachgeborenen, der dem militaristischen und nationalistischen Vater bzw. Großvater in den Arm fallen muß, bevor dieser die Welt erneut in Schutt und Asche legt. Um die Frage zu beantworten, was die Empathie mit den Opfern den deutschen Nachgeborenen abverlangt und was sich für sie verbietet, scheint es unzureichend, die Welt vorrangig aus der Sicht des potentiellen Täters zu sehen (der dieses nie wieder sein will). Notwendig ist wohl auch das Erlernen des Blicks durch die Augen der Opfer, denen man Verteidigung wie Selbstverteidigung in gleichem Maße verwehrt. Srebrenica könnte die Scheidelinie sein, an der bei den deutschen Nachgeborenen ein neues Bewußtsein für Schuld wächst. Es ist nicht zuletzt der Schock und die Verunsicherung über Srebrenica, die in der Frage nach der programmatischen Weiterentwicklung bündnisgrüner Außenpolitik münden.

Elemente dieser Weiterentwicklung wären sowohl Blauhelmeinsätze mit deutscher Beteiligung, als auch der Ausbau der OSZE zu einer Organisation, die auch über militärische Mittel verfügen muß, um Versuchen der friedlichen Streitbeilegung den nötigen Nachdruck zu verleihen, aber auch, um Gewalt im äußersten Fall beenden zu können.

Ob der Versuch der programmatischen Selbstverständigung der Grünen auch eine Strahlkraft nach außen gewinnt, hängt davon ab, ob es gelingt, eine neue Streitkultur zu entwickeln, die nicht in den sattsam bekannten Sanktionsritualen mündet, oder ob Bemühungen hierfür nach dem Motto „Möchte gern, kann nicht“ versanden.

Die Autorin ist Bundesvorstandssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Kommende Woche werden Prof. J. Raschke und F. Nullmeier in der taz Grundzüge einer grünen Programmatik vorstellen.