: Kreta erinnert sich
Wandern am Rande der Weißen Berge und die Begegnung mit den deutschen Besatzern ■ Von Johannes Winter
Wir besteigen den Mittagsbus in Chania. Die Landstraße windet sich durch Apfelsinenplantagen, steigt dann durch Olivenhaine und klettert schließlich zwischen Macchia und nacktem Gestein bis zum Paß hoch.
Der Pope im Bus schlägt ein übers andere Mal das Kreuz auf der schwarzen Brust unterm weißen Bart. Sei es, er erblickt ein Kirchlein, einen Friedhof oder eines der zahlreichen metallenen Gestelle aus vier Beinen, die einen kleinen Reliquienschrein tragen, sogenannte Lichthäuschen. Für Verkehrstote? fragen wir. Nein, für Erschießungsopfer, sagt er.
Am Westabhang der Weißen Berge entlang geht es meerwärts. Sougia an der Küste ist eines von etlichen griechischen Inseldörfern mit demselben Maskottchen: ein Pelikan, der auch für Touristen posiert, wenn er nicht im Schatten eines Autos schläft. Unter der Tamariske sitzt Maria Papaderou, ganz in Schwarz mit schlohweißem Haar. Natürlich ist sie nicht so alt wie der Baum, aber ihre 80 machen sich gegen dessen 800 Jahre nicht eben schlecht.
Aus der Kneipe nebenan schallt Sirtakimusik im Wechsel mit Rod Stewart herüber, aufdringlich.
Unter der Tamariske, wo Maria mit uns sitzt, befand sich einmal ein unterirdisches Versteck, war ein Maschinengewehr in Stellung gebracht, zog sich ein Stacheldraht um das Anwesen. Die Gäste damals kamen ungebeten und in Uniform. Das war vor über fünfzig Jahren, sagt Maria.
Wir gehen wandern und sehen uns häufig in Gesellschaft. Kreta ist im Frühling wie im Herbst ein Dorado für Rucksacktouristen. Auf Ziegen- oder im besseren Fall Eselpfaden über Stock und Stein wetteifern alle Altersstufen barwadig und mit mächtigem Gepäck um den Lorbeer des „Machen“.
In wieviel Stunden jemand die 12 Kilometer zwischen Sougia und Paleóchora oder die Smaária- Schlucht mit ihren 16 Kilometern oder überhaupt die 18 Kilometer zwischen Sougia und Agia Roumeli „gemacht“ hat, ist ein wichtiges Thema im Kafenion.
Ostwärts wenden wir uns, den Weißen Bergen zu, das Meer zur Rechten. Die warmen Quellen von Pefki suchen wir. Aber kein Dampfen und Brodeln erwartet uns aus dem bizarren Lavafeld tief unten in der Bucht, nirgendwo ein von Rheuma Geplagter auf Heilungssuche.
Wir lassen die Küste hinter uns und steigen ins Gebirge. Livadás, ein Bergdorf am Westabhang der Weißen Berge, zieht sich längs der Straße hin. Hier ist Maria Papaderou geboren. Den kleinen Friedhof überragt ein blauweißer Glockenturm. Die Familiengräber der Papaderos – Steinsarkophage mit Lichthäuschen – tragen stereotype Anmerkungen zur häufigsten Todesursache: „von den Deutschen erschossen“, „ermordet von den Deutschen“, „gefallen im Kampf gegen die Deutschen“.
Schräg gegenüber erhebt sich am Hang ein ungewöhnlich großes Haus mit doppelter Treppe. Kaum erkennbar ist in die Mauer eine Jahreszahl eingelassen, „1963“. Ein Stück Wiedergutmachung der Deutschen, sagt der junge Holländer, der es zur Miete bewohnt.
Junge Leute der „Aktion Sühnezeichen“ haben sich in den sechziger Jahren überall in Kreta darin versucht. Hier ist es mißglückt, denn den Bau nach Art eines deutschen Dorfgemeinschafts- oder Bürgerhauses haben sich die Leute von Livadás nie zu eigen gemacht. Sie nutzen nur einen Raum, mal als Düngemittellager, mal als Sprechstundenzimmer für den Dorfarzt.
Am Ortsausgang treffen wir auf die Ursache für die Wiedergutmachungsaktion. Ruinen ragen aus der Macchia, zerstörte Häuser, Reste eines Verbrechens.
Der Pope spaziert vorüber. Wir sollen ein Dorf weitergehen, sagt er, nach Koustogérako.
Auf der Terrasse ihres Kafenions sitzt Konstantina Paterakis und liest ihrem Mann aus der Zeitung vor. Sie bringt Oliven und Käsegebäck zum bernsteinfarbenen Hauswein. Vor uns liegt der Dorfplatz, zu beiden Seiten die weißen Häuser des Bergnestes, im halbrunden Hintergrund das Felsmassiv der ansteigenden Weißen Berge. Welch ein Panorama, welch eine Akustik!
Köter, Hühner, Krähen, Spatzen, Ziegen, Schafe, Esel – jeden Laut stärken die Bergwände, echolos. Wir sitzen wie auf einer Bühne, den Kopf voller Töne.
Konstantina, nur wenig jünger als Maria unten in Sougia, weiß von einem Onkel ihres Mannes, der in ganz Kreta einen legendären Ruf genießt: Jannis, der Meisterschütze.
Es war im September 1943, als die Deutschen ins Dorf einfielen, Frauen und Kinder und Alte auf den Platz trieben und vor ihnen ein Maschinengewehr in Stellung brachten. Da vorne, sagt sie, wo die Hühner scharren, standen sie.
Die Mordaktion begann. Zwei Frauen und zwei Kinder wurden vor den Augen ihrer Männer und Väter oben in den Bergen erschossen. Da griff der Partisan und Meisterschütze Jannis ein und landete einen effektvollen Treffer. Der Truppenführer der Deutschen fiel tot um, seine Leute flüchteten.
Konstantina weist auf die gezackte Linie der Kalkfelsen. Vom Kamm dort oben habe Jannis geschossen. Die Entfernung muß mehrere hundert Meter ausmachen.
Koustogérako, zu deutsch „Bergfalke“, ist wie viele kretische Dörfer und anders als italienische nicht auf einem Gipfel erbaut, sondern auf einem Felsplateau darunter. Jahrhunderte der Besetzung durch fremde Heere – von Römern über Türken bis zu den Deutschen – begründen die Topographie der Siedlungen. Ein Meisterschuß gegen einen überlegenen Feind kann nur vom Gipfel, aus der vertrauten Unwegsamkeit des Gebirges gelingen.
Ganz Koustogérako, nicht nur der Schütze Jannis, ist in Kreta berühmt für seinen Widerstand. Die Alte neben mir erzählt eine andere Begebenheit aus der Familie. Es war Manolis, der Bruder von Jannis.
Gemeinsam mit britischen Agenten gelangen ihm und seiner Gruppe von Andarten, wie die kretischen Partisanen heißen, im April 1944 die Entführung eines leibhaftigen deutschen Generals. Kreipe hieß der Mann und wurde 14 Tage lang von einer Straßenkreuzung in der Nähe seiner Villa beim weltberühmten Knossos durch die Berge geschleust bis in eine einsame Bucht an der Südküste, nicht weit von der Höhle des Polyphem. Eines Nachts tauchte dort ein britisches U-Boot auf und nahm Entführer und Entführten auf und brachte sie nach Kairo.
Konstantina geht Holz hacken. Bergab vor der ersten Serpentine stoßen wir auf eine Gedenkstätte. Weder Maria noch Konstantina hatte sie erwähnt. Auf Kreta existieren zahlreiche Mahnmale, die an die Verbrechen der deutschen Besatzer zwischen 1941 und 1945 erinnern. Allein 40 Dörfer haben die Deutschen, wie das hieß, dem Erdboden gleichgemacht, 40 weitere teilweise zerstört, mehrere tausend Frauen und Kinder und Männer ermordet, „Bandenbekämpfung“ im Landserdeutsch, nachdem ihre Fallschirmjäger, unter ihnen der Boxer Max Schmeling, auf der Insel gelandet waren. Auf den Meisterschuß von Koustogérako, der im übrigen verhindern half, daß die Frauen des Dorfes ihre Söhne und Männer, deren Waffendepots und den geheimen Sender verrieten, der für das Kreipe-Kidnapping benötigt wurde, reagierte die Wehrmacht wie üblich.
In einer zweiten Aktion wurden die drei Dörfer Koustogérako, Livadás und Moni unten an der Landstraße in Brand geschossen, Frauen und Kinder, deren man habhaft werden konnte, wurden erschossen oder verschleppt.
Daran erinnert die Gedenkstätte: ein offenes Totenhaus auf einer Felskante hoch überm Tal, gefügt aus drei dreieckigen, weißen Säulen, die von einer stilisierten Dachkonstruktion gekrönt sind. Die Dimension des Verbrechens, an das erinnert werden soll, erschließt sich beim Verweilen zwischen den drei Säulen, für jedes Dorf eine. Drei Gesteinsschichten, ausgelegt wie plastische Bilder, von einem keilförmigen Blitz aufgerissen, deuten mit ihren Alltags- und Schreckenssymbolen die Geschichte an, wie sie hereinbrach. Die unterste Schicht erweist sich bei näherem Hinsehen als Stapel von steinernen Totenköpfen, Goyas Schreckensfratzen nachempfunden.
Schafe blöken, Ziegen meckern, Glöckchen scheppern, Esel krächzen ihre Arie aus Trompetenstoß und rachitischem Schluchzer. Der Künstler, erfahren wir im Dorf, heißt Jannis Siradakis, stammt aus Livadás und lebt in Zürich. Sein Werk steht, wo Fuchs und Hase, falls es sie denn dort oben gibt, sich gute Nacht sagen.
Von Sougia aus geht es westwärts, am Hafen vorbei. Lisós, der antike Kurort, ist das Ziel der Wanderung. Eine grüne Oase inmitten der karstigen Küstenberge erwartet uns, Quellen und Heilbäder, wo sich einst Nymphen tummelten und Asklepios, dem Medizinmann der griechischen Götterfamilie, ein Tempel errichtet war.
Dem Blick nach unten bietet sich ein Sammelsurium von Ackerbau, Ruinen und Wohnräumen. Wir durchstreifen Olivenhaine und Tomatengärten, Ziegenställe, Kirchlein, Grabkammern und Tempelreste mit Säulenstümpfen und Mosaikfußböden.
In der winzigen Bucht stoßen wir auf einen Schotterstrand, der strotzt von Plastikmüll, Ziegenkadavern und Teerflocken. Gegen Mittag dient ein Bärtiger müden Wanderern sein Boot an.
Den Abend verbringen wir bei Maria am Strand. Sie erzählt, und es fügt sich zusammen, was oben in Koustogérako einst geschah und was sich hier unten in Sougia fortsetzte. Ihr Anwesen beherbergte damals das Schiffslager für die Dörfer talaufwärts, denn eine Straße von Norden her gab es noch nicht. Alle Lebensmittel mußten übers Meer herangeschafft werden. Als ruchbar wurde, daß die Deutschen kamen, und bevor diese ihr Haus zum Hauptquartier machten, wurden sämtliche Waren und Lebensmittel vergraben, unter den Tamarisken vor dem Haus.
Auf den Meisterschuß von Koustogérako reagierten die Besatzer mit einer „Sühnemaßnahme“ beziehungsweise „Strafaktion“ genannten Razzia.
Eine uniformierte Mörderbande von 4.000 Landsern fiel ins Tal ein, Flugzeuge bombardierten die drei Dörfer. Nach einer Woche waren etwa zwanzig Frauen und Kinder gefangengenommen. Gängige deutsche Praxis war es, sie als Geiseln ohne Wasser und Brot einzusperren, bis sie ihren eigenen Urin tranken. Doch die Gefangenen schwiegen. Als die Vorbereitungen für die Exekution unter den Tamarisken abgeschlossen waren, gab der Boden unter den Füßen des Kommandos nach. Das Warenlager war entdeckt und wurde nach Waffen durchsucht. Dies rettete den Geiseln das Leben.
Maria zitiert eine alte kretische Weisheit: Soldaten sind wie Ziegen, sie kommen und gehen.
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