: Kosmos Kiosk
Trotz Warenbarrikaden ist ein griechischer Kiosk durchlässig und kommunikationsfreundlich ■ Von Uwe Wandrey
Langsam bewegt er sich unter den Tamarisken des Uferwegs voran. In der Taille ist er eingeknickt. Das rechte Bein zieht er nach. Die Hosenbeine sind bis an die Knie hochgekrempelt, die Füße wollen aus den Sandalen rutschen. Als er auf den Kirchplatz kommt, macht er das Kreuz.
„Kalimera!“ ruft er mir zu und zwirbelt seinen Bart. Noch ein paar behäbige Schritte, dann schließt Kostas die Tür zu seinem Kiosk auf und verschwindet im Innern.
Noch liegt der kleine Laden im Morgenschatten der Kirche. Die Insel Paros erwacht, nur ihre Touristen schlafen noch.
Jetzt schiebt Kostas das kleine Verkaufsfenster auf. Sein Gesicht erscheint in einem Passepartout aus verblichenen Werbeaufklebern. Ich lehne meine Angel an die Holzwand.
„Na? Was gefangen?“
„Nichts.“
„Warte bis Neumond, dann beißen sie wieder. Nun setz dich erst mal.“
Schon hat er mir einen Stuhl in die kleine halboffene Plauderlaube gestellt und macht sich in seinem Kabäuschen zu schaffen. Wischt mit der Handkante über ein leeres Regal, füllt Zigarettenschachteln nach und reißt Kartons mit Süßigkeiten auf. Und zwirbelt zwischendurch die langen Schnauzbartflügel.
Dann bückt er sich wieder, dreht sich und reckt sich – so gut es eben geht.
Und es geht. Denn diese Holzwürfel von 1,8 Metern hoch drei sind wahre Wunderwerke der Ladenbaukunst: Das Innere ist kaum größer als die Speisekammer vor der Kühlschrankära. Die Warenregale reichen bis an die niedrige Decke und sind aufs ökonomischste gespickt. Zigaretten werden in Fächern gestapelt. Hansaplast kommt aus der Tüte, Heftzwecken und Weihrauchplättchen kommen aus Blechschachteln, Bleistifte aus Keksdosen. Die Postkartensätze werden mit Gummibändern zusammengehalten, Rasierklingen und Batterien lagern im Schuhkarton, Süßigkeiten präsentieren sich in durchsichtigen Plastikquadern. Maskottchen baumeln vom Regalrand.
Die Tageszeitungen lagern auf dem Verkaufsbrett, die Wochenzeitungen sind mit Wäscheklammern unter dem Vordach an die Außenwand gesteckt. Heftromane und anderes Seichte kleben von innen an den Fenstern. Selbst die Tür des Kiosks ist mit Ware bestückt.
Ich denke an meinen Reisekoffer, in dem ich nie etwas finde und den ich nur mit den Knien zukriege.
„Sag mal, Kostas, wie viele Artikel führst du eigentlich?“
„Tausend.“
„Und hast du ein bestimmtes System?“
„Gewußt, wo.“ Mehr erfahre ich nicht über die Philosophie des Staumeisters, dessen Hände schon wieder im Warendickicht unterwegs sind.
Aber dann rechne ich nüchtern durch: Auseinandergeklappt kommt Kostas' Kiosk inwendig- auswendig auf rund achtundzwanzig Quadratmeter Schau- und Stellfläche und auf fast drei Kubikmeter Stauplatz.
Der taube, dämmerige Innenraum bildet zwar das Kraftzentrum in diesem Mikrokosmos, doch die Ware und ihr Verweser sind nur der Anstoß für die Bewegung draußen: das Kundengetümmel und Kundengetöne an der Peripherie.
„Kosmos“ bedeutet Welt, aber auch Leute. Erst wenn ein paar Leute beisammen sind und erzählen, rückt die Welt in ein überschaubares, menschliches Format.
Die Architektur eines griechischen „periptero“ (= „rundgeflügelt, ringsüberdacht“) ist trotz der Warenbarrikaden durchlässig und kommunikationsfreundlich. Das leicht geneigte, überstehende Dach sorgt nicht nur für Sonnen- und Regenschutz, es schafft auch noch eine schmale Palaverzone. An manche Kioske lehnt sich noch ein Vorraum mit Balustrade, wo sich gern ältere Menschen verpusten. Verkauft wird entweder durch das kleine Vorderfenster oder durch die offene Tür.
Die meisten Kioske besitzen noch seitliche Tresenbretter mit einem Telefon. Diese Nebenstellen werden zum Hauptschauplatz, wenn sich etwa eine reisende Landfrau, aufs Meer blickend, so vernehmlich bei ihrer Familie meldet, daß man meint, ihr durch weit ausholende Gesten verstärkter Sopran erreiche das andere Ufer eigentlich auch spielend auf dem Luftweg.
Ein Kioskkönig sollte eigentlich nicht mehr als ein Meter siebzig messen, neben seiner griechischen Gelassenheit den Ordnungssinn eines Lageristen besitzen, dazu eine geschmeidige Wirbelsäule, stabile Knie, geschmierte Schultergelenke, Schlangenarme und spitze Finger.
Gelassen ist Kostas, die Gelenkigkeit des sonst rüstigen Siebzigjährigen jedoch ist eingeschränkt. Er ist ein sogenannter Zivil-Invalide. Aber dieser Nachteil und eine alte Verordnung verhalfen ihm 1967, als der Vorpächter aufgab, zu einer soliden Existenzgrundlage.
Der Kiosk wurde in Griechenland aus der Not geboren: 1923, nach der Niederlage im Krieg gegen die Türken, war für Soldatenpensionen kein Geld da. Um zumindest den Kriegsinvaliden eine Existenz zu ermöglichen, baute man ihnen Kioske.
Bis vor fünfzehn Jahren erhielten nur Kriegsversehrte und andere Körperbehinderte eine Lizenz, seitdem jedoch können Kioske auch an Nichtbehinderte verpachtet werden. Ihre Gesamtzahl allerdings bleibt begrenzt, und noch immer stehen sie unter kommunaler Verwaltung. Wie in kaum einem anderen europäischen Land prägen diese Holzhäuschen unverwechselbar das Bild der Straßen und Plätze.
„Von meinem Kiosk müssen zwölf Personen leben“, erläutert Kostas, als er alles verstaut hat. Na gut, ich will es ihm mal glauben. Das Hauptgeschäft macht er mit Zigaretten. Den Sommer über arbeitet Kostas achtzehn Stunden. In der Mittagszeit löst ihn seine Frau ab, während der Schulferien springen auch die Enkel ein. Früher waren manche Kioske wahre Goldquellen. Heute graben ihnen gerade in kleineren Orten die großen Supermärkte das Wasser ab.
Doch Kostas vertreibt nicht nur irdische Güter, sondern dann und wann auch Geister. Denn über die hat der rechtgläubige Pfarrer keine Macht.
Zum Beispiel, wenn jemand vom „bösen Blick“ getroffen wurde. Dann bekreuzigt Kostas die Augen des Opfers mit Agiotika, mit heiligen Formeln, und befreit so den Gebannten. Auch kann er, wenn jemand unter einem Sonnenstich leidet, an ihm „die Sonne vermessen“, und zwar durch ein drei Ellen langes Tuch, mit dessen Zipfelknoten er – Vater, Sohn und Heiligen Geist anrufend – über die Stirn des Gestochenen kreuzt. Wenn's gewirkt hat, so wollen es viele beschwören, ist das Tuch um eine Fingerlänge eingelaufen.
Welcher Supermarkt hätte derartige Dienstleistungen zu bieten?
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