: Das zweite St. Georg
■ Vertreibungspolitik: Jetzt wird im Sternschanzenpark gedrückt / Senat völlig ahnungslos / Bisher 19 „Kinderdealer“ abgeschoben Von Silke Mertins
Zuerst waren es nur die gebrauchten Spritzen, über die man plötzlich im Sternschanzenpark stolperte. Doch inzwischen sind die dazugehörigen Junkies auch für all jene sichtbar, die vorsichtshalber nicht so genau hingucken. Im dem Park wird an allen Ecken gehandelt, die Gebüsche zwischen S-Bahnhof und Wasserturm sind zum öffentlichen Druckraum geworden. Denn: Die Süchtigen sind den Dealern nach deren Vertreibung aus St. Georg ins Schanzenviertel gefolgt.
Der Senat gibt sich indes völlig ahnungslos. In seiner gestern bekannt gewordenen Antwort auf eine Große Anfrage der GAL zur „Drogenpolitik und Polizeistrategie“ freut sich der Senat, daß eine „Dezentralisierung der Szene“ zu beobachten sei, ohne daß eine Verdängung „auf bestimmte andere Örtlichkeiten stattfindet“. Aufgrund „polizeilicher Feststellungen“ könne eine Verlagerung zur Sternschanze nicht bestätigt werden.
Doch genau das, was DrogenhelferInnen und die GAL immer befürchtet haben, ist eingetreten: Die Drogenszene „dezentralisiert“ sich in Stadtteile, die darauf überhaupt nicht vorbereitet sind. Der vor wenigen Wochen eröffnete „Gesundheitsraum“ Fixstern im Schanzenviertel kann den Versorgungsbedarf nicht decken und hat zudem nur an fünf Tagen in der Woche von 15 bis 19 Uhr geöffnet.
„Eine vollständige Beseitigung der offenen Drogenszene ist in Metropolen nicht erreichbar“, erkennt der Senat immerhin. Trotzdem klammert sich die Innenbehörde an ihr Vertreibungskonzept für St. Georg und will an den Platzverweisen festhalten. Im Vergleich zu 1994 hat sich deren Zahl vervielfacht; bis August waren es schon 30.595 Verweise. Das sind mehr als im gesamten Vorjahr. Für die rechtlich umstrittenen Platzverweise will der Senat sogar vor Gericht kämpfen: Die Innenbehörde strebe eine „obergerichtliche Klärung an“.
In der Senatsdrucksache wird außerdem offen zugegeben, daß 155 Platzverweise gegen Menschen ausgesprochen wurden, die in St. Georg wohnen und damit de facto Hausarrest verordnet bekommen, was das Gesetz nicht vorsieht.
Wer dem Platzverweis keine Folge leistet, wird „in Gewahrsam genommen“. Doch, so fragte die GAL den Senat, was passiert wenn Junkies – die zur Finanzierung ihrer Sucht oft selbst dealen – „einen Affen schieben“, also in der Zelle Entzugserscheinungen haben, die unter Umständen sehr gefährlich sein können? Der Betroffene könne durch einen „entsprechenden Hinweis die Beteiligung eines Arztes verlangen“, so der Senat. Das widerspricht nach Angaben der DrogenhelferInnen nicht nur der gängigen Praxis, sondern ist laut Polizeigesetz, das der „kritische Polizist“ und GALier Manfred Mahr extra noch mal nachgelesen hat, eigentlich verboten. AlkoholikerInnen werden aus diesem Grund nicht inhaftiert, sondern der Zentralambulanz überstellt.
Ein Arztbesuch oder die Konsultation eines Rechtsanwalts sei „jedem Betroffenen möglich, der sich so verhält, daß von ihm keine Gefahr ausgeht“, brilliert der Senat. „Die Betroffenen haben es selbst in der Hand.“ Damit ist der polizeilichen Willkür Tür und Tor geöffnet. Was als „Gefahr“ gilt, die sich da anbahnt, entscheidet der Beamte. Flüchtlinge können die Berechtigung der Behauptung meist nicht mehr gerichtlich klären: Ihre Daten werden an die Ausländerbehörde weitergegeben, die eine Ausweisung veranlaßt. 19 mutmaßliche „Kinderdealer“ wurden laut Senat bis vergangenen Freitag abgeschoben, darunter vier 13jährige, ein 14- und ein 15jähriger.
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