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„Die Leute stumpfen einfach ab“

Ein Fehlalarm nach dem anderen erschreckt die Menschen, und wenn die Erde wirklich bebt, glaubt niemand den Sirenen – Mexiko zehn Jahre nach dem großen Beben  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

„Der neunzehnte, 7 Uhr 19, morgens. Die Angst. Die alltägliche Wirklichkeit zerfällt in Schwingungen, in lauter gewaltige und winzige Geräusche, in klirrende Scheiben, in das Zusammenkrachen von Gegenständen und Verkleidungen, in Schreie, Schluchzen, in das durchdringende Knirschen, das die nächste unvermeidbare Metamorphose des Zimmers, der Wohnung, des Hauses, des Gebäudes ankündigt.“ So beginnt die Erdbebenchronik des mexikanischen Schriftstellers Carlos Monsiváis. Am darauffolgenden Abend werden Menschen und Mauern in Mexiko-Stadt noch einmal von einem Beben erschüttert. „Die Angst greift um sich, entlädt sich in den Gebeten auf offener Straße, dem Schluchzen der knieenden Männer und Frauen, in den unzusammenhängenden Sätzen, die aus dem Entsetzen an niemanden bestimmtes gerichtet sind, in den Wutausbrüchen gegen die unsichtbaren Behörden.“

Das war vor genau zehn Jahren. Endlose zweieinhalb Minuten lang wackelten in der 20-Millionen- Stadt die Wände, eine Rekordstärke von 8.1 maß damals die Richterskala. Das Stadtzentrum wurde zum Katastrophengebiet erklärt, mehr als 370 Hochhäuser – darunter auch Krankenhäuser und Hotels – krachten völlig zusammen. Die genaue Zahl der Toten wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben: während offiziell von achttausend Opfern die Rede ist, schätzen unabhängige Organisationen die Zahl der Menschen, die unter den Trümmern begraben wurden, auf bis zu 50.000; Hunderttausende verloren ihr Dach über dem Kopf. Wochenlang glich die Innenstadt einem Kriegsschauplatz, Verwesungsgestank und durchdringender Gasgeruch lag über den Straßen.

Während das Katastrophenmanagement von Polizei und Behörden sich größtenteils auf hilflose Beschwichtigungsversuche („Keine Panik!“ und „Bleiben Sie zu Hause!“) beschränkte, griffen die verstörten BewohnerInnen kurzerhand zur Selbsthilfe. Ganze Brigaden aus Punks und Krankenschwestern, Ärzten, Taxifahrern und Hausfrauen versuchten zu retten, was zu retten war. Improvisierte Rettungsteams suchten nach Überlebenden, Menschenketten versorgten die Obdachlosen, brachten Wasser und Lebensmittel für die Trümmerbrigaden.

Seither gehen in Mexiko-Stadt, alle Jahre wieder, jeden 19. September ein paar tausend Menschen auf die Straße. Um ihrer Toten zu gedenken, um an die bis heute nicht erfüllten Forderungen nach „menschenwürdigem Wohnraum“ zu erinnern, vor allem aber an ihren nie verrauchten Zorn über die behördliche Inkompetenz. Das Datum ist nicht nur Trauma und offene Wunde, es gilt zudem als Geburtsstunde einer neuen politischen Kultur „von unten“. Denn beim tagelangen gemeinsamen Wühlen in den Trümmern entstand in der Chaos-Metropole auch etwas ganz Neues, bis dahin fast Unbekanntes: die Erfahrung von leibhaftiger Solidarität, die erstaunliche Effizienz der selbstorganisierten Aufräum- und Hilfsaktionen.

Überall entstanden neue Stadtteilorganisationen, Selbsthilfegruppen und Fraueninitiativen, unabhängige StadtplanerInnen und ArchitektInnen entwickelten zusammen mit den AnwohnerInnen alternative Bau- und Wohnkonzepte. Eine mächtige städtische Volksbewegung, das movimiento urbano popular, war geboren. „Die Erfahrung des Erdbebens“, schreibt Monsiváis, „hat dem Begriff Zivilgesellschaft eine unerwartete Glaubwürdigkeit verliehen.“

Vergleichbare Fortschritte im Zivilschutz lassen sich nach Ansicht unabhängiger ExpertInnen bis heute nicht verzeichnen. Noch im Jahre 1993 mußte die Stadtverwaltung zugeben, daß „fast 100 Prozent“ der öffentlichen Gebäude über keinerlei gangbare Evakuierungswege verfügen. Insgesamt gibt es im Stadtgebiet, so schätzt der Oppositionspolitiker Ramon Sosamontes, an die 15.000 sechs- und mehrstöckige Gebäude, die leicht wieder zur tödlichen Falle werden könnten. Und in 3.000 Schulen wird der gesetzlich vorgeschriebene Probealarm gar nicht erst durchgeführt.

Dabei leben die MexikanerInnen hier permanent auf schwankendem Boden. Nach Zahlen des Nationalen Erdbebendiensts wurden in den letzten 20 Jahren nicht weniger als 26.000 – hauptsächlich kleinere – Erdverschiebungen in der Stadt registriert. Ein ähnlich verheerendes Beben wie vor zehn Jahren wird von Seismologen jederzeit wieder erwartet. Der Leiter des privat gesponserten Seismologischen Forschungszentrums CIRES, Juan Manuel Espinosa, schätzt das Risiko bis zur Jahrtausendwende gar auf „80 bis 100 Prozent“ ein.

Besonders an der Pazifikküste des Bundesstaates Guerrero, um den Badeort Acapulco, herrscht seit nunmehr fast 80 Jahren verdächtige Ruhe. Vor ein paar Jahren hat das CIRES an dieser Risikoküste 12 Meßstationen installiert, die jede Erdbewegung registrieren und bei größeren Beben die Stadtbevölkerung via Signalton in Sekundenschnelle alarmieren sollen. Fünfzig bis sechzig Sekunden hätten die Menschen dann Zeit, sich vor einstürzenden Neu- und Altbauten in Sicherheit zu bringen – theoretisch.

Denn in der Praxis hat sich das System, das die Behörden im August 1993 stolz als das „modernste der Welt“ präsentierten, bis heute vor allem durch Fehlalarme einen fragwürdigen Namen gemacht. Während sich der Warnton bei einem heftigen Beben im Oktober 1993 durch diskretes Stillschweigen auszeichnete, trieb wenige Wochen darauf ein durchdringendes Sirenengeheul hunderttausende auf die Straße, ohne daß die Instrumente auch nur die geringste Erdverschiebung gemessen hätten. Im Frühjahr dieses Jahres hatte ein Radiosender bei einem kleinen Beben „versehentlich“ den Alarmton übertragen.

Und noch am vergangenen 14. September, nur wenige Tage vor dem grausigen Jubiläum, wurde bei einem schweren Erdstoß das Signal zwar in einigen Sendern durchaus aktiviert – allerdings meist erst dann, als die Menschen schon längst zitternd vor ihren Häusern standen. Von Experten wurde das Beben der Stärke 7,3 als eines der stärksten dieses Jahrhunderts bezeichnet. In Guerrero fielen ihm mindestens vier Menschen Opfer zum Opfer, in der Hauptstadt dagegen blieb es diesmal noch beim Schreck. Für ein paar quälende Minuten machte sich hier am Donnerstagmorgen eine panische Dejá-vu-Stimmung breit – die Gemäuer aber hielten fürs erste stand. Eine „Mahnung“ sei dieser Ruck gewesen, meinte eine von Reportern umringte junge Abgeordnete, „damit wir uns endlich um unsere mangelhafte Zivilschutzkultur kümmern.“

Für den renommierten Seismologen Cinna Lomnitz ist das CIRES-System sowieso nur eine „Finte“ der Behörden, zur Beruhigung der Bevölkerung. Auf Dauer, meint der Experte von der staatlichen Nationaluniversität, richte ein solcher flächendeckender (Fehl-)Alarm eher Schaden denn Nutzen an: „die Leute stumpfen mit der Zeit ab“, und es sei schon vorgekommen, daß alte Menschen vor Schreck von der Treppe fallen oder Herzinfarkte erleiden. Wenn überhaupt, so schlagen Universitätsforscher vor, dann soll der Signalton nicht per Radio, sondern über individuelle Pieper übertragen werden. Wer sich für gefährdet hält, könne sich für ein paar Pesos den kleinen Apparat anschaffen. Das sei billiger und auch ethisch verträglicher. „Denn was passiert mit alten Omas oder Leuten in über fünfstöckigen Häusern, die sich sowieso nicht mehr retten können? Man kann die Leute doch nicht zur nutzlosen Panik zwingen.“

Wichtiger als aufwendige Alarmvorrichtungen scheint ohnehin die viel delikatere Frage der Bausubstanz. Sämtliche Großbeben der letzten Zeit – 1989 bei San Francisco, 1994 bei Los Angeles und dieses Jahr im japanischen Kobe – haben etwas gemein mit der Mexiko-Katastrophe: den schlammigen Untergrund. Denn die mexikanische Haupstadt ist nicht etwa auf Sand, sondern schlicht auf Schlamm gebaut.

Vor 470 Jahren konnten sich die spanischen Eroberer bei ihrem Einzug in die Aztekenmetropole, die Inselstadt Tenochtitlán, noch an der Schönheit eines „amerikanischen Venedig“ erfreuen. Kurz nach deren Zerstörung ließen sie auch den See drumherum trockenlegen. Erst in diesem Jahrhundert begann man mit der Bebauung dieser trockengelegten Wassergebiete um den historischen Stadtkern, den die Spanier auf den Trümmern des alten Tenochtitlán errichtet hatten. Just an den Rändern dieser Altstadt, den ehemaligen Seeufern, wurden 1985 die größten Verwüstungen registriert.

Diese Erkenntnis hat Cinna Lomnitz schon vor einiger Zeit zu einer umstrittenen Annahme gebracht: die Erdstöße seien nicht wie bisher als elastische Erdverschiebungen, sondern als Wasserwellen zu berechnen, da sich der Schlamm während eines Bebens wie Wasser verhalte. Mehr als 16 Prozent der mehrstöckigen Bauten auf weichem Boden sind 1985 zusammengefallen und beim nächsten Mal, befürchtet der Wissenschaftler, „wird es wahrscheinlich wieder genausoviel“.

Die Akzeptanz der These hätte kostspielige Konsequenzen für Stadtverwaltung und Bauindustrie. Zunächst einmal müßten sämtliche Hochhäuser im Stadtzentrum endlich evakuiert werden. Selbst nach offiziellen Angaben gelten 400 Gebäude als gefährdet. Eine Angabe, die Lomnitz überaus beunruhigend findet: „Wenn sie das schon selber zugeben, dann sind es mindestens 2.000.“ Außerdem wären künftig alle Bauten auf schlammigen Untergrund viel robuster, flacher und mit einem größeren Unterbau – Keller oder Tiefgaragen – zu konstruieren. „Wie Schiffe“, erklärt Lomnitz, „die fallen bei hoher See ja auch nicht einfach um.“ Aber derlei Vorschläge, meint der Kollege vom CIRES abschätzig, „sind natürlich viel zu teuer.“

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