: Momentan braucht Moskau keinen Krieg
Die Aktionen der tschetschenischen Rebellen in Grosny könnten zu einem erneuten Aufflammen des Krieges führen. Noch jedoch hält sich die russische Armee zurück ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Die Lage in Tschetschenien spitzt sich von neuem zu. Am Mittwoch morgen hatte es zunächst einen Anschlag auf den Vertreter Präsident Jelzins in Grosny, Oleg Lobow, gegeben. Dann explodierte zum zweitenmal innerhalb von 24 Stunden in den städtischen Ölraffinerien eine Bombe, kurz darauf wurden Mitarbeiter der Militärkommandantur in Grosny entführt. Tschetscheniens Nochpräsident Dschochar Dudajew wies jeden Zusammenhang mit dem Anschlag auf Moskaus Abgesandten zurück. Doch das ändert nichts an der Gesamtlage.
Gegenseitig werfen sich beide Seiten vor, die Absprachen des Militärabkommens vom Juli nicht einzuhalten. Nur zögernd händigen die Rebellen ihre Waffen aus, weil sie von einem gleichzeitigen Abzug der Russen ausgingen. Diese aber folgen der Auslegung: Abzug erst nach der Entwaffnung.
Das Manko ist in den Bedingungen des Militärabkommens zu suchen, das jegliche Bezüge zur politischen Situation ausklammerte. Statt dessen einigte man sich darauf, die offenen politischen Fragen im Anschluß in einer Kommission zu behandeln. Die hat sich aber seit Wochen nicht mehr getroffen.
Die Tschetschenen bewerteten bereits die Aufnahme von Friedensgesprächen als indirekte Kapitulation der Russen. Das zeigte sich deutlich an den überschwenglichen Feiern zum Jahrestag der Unabhängigkeit Anfang September. Die Russen im Gegenzug glaubten, säßen die Tschetschenen einmal am Verhandlungstisch, lasse sich der verfassungsrechtliche Status quo aufrechterhalten, wonach Tschetschenien ein Bestandteil der Russischen Föderation ist. Die Bevölkerung, des Blutvergießens leid, werde den Druck auf Dudajew erhöhen. Dies aber traf nicht ein. Oleg Lobow, Scharfmacher der ersten Stunde, hat sich seit seiner Amtsübernahme vor knapp einem Monat noch kein einziges Mal mit einem Repräsentanten des Gegners getroffen. Das signalisiert unmißverständlich, wer meint, in Grosny das Sagen zu haben. Statt dessen befaßt er sich demonstrativ mit dem Wiederaufbau der zerbombten Stadt.
Momentan sieht es so aus, als würde Tschetschenien am Ende – der Zeitpunkt läßt sich noch nicht festlegen – weiterhin der Russischen Föderation angehören und Moskau ihm eine Reihe von Sonderrechten zugestehen, analog zu Verträgen mit Regionen wie Sacha oder Tatarstan. Das jedoch hätte man schneller, einfacher und ohne Aderlaß haben können. Eine endgültige gewaltsame Lösung des Problems liegt nur im Interesse der russischen Militärs. Zum einen brauchen sie dringend einen Erfolg, der ihnen materielle Zuwendungen sichert. Zum andern steht der Winter ins Haus, der sie vor arge Schwierigkeiten stellen wird.
Die Regierung um Tschernomyrdin bangt um ihre Existenz nach den Wahlen im Dezember. Ein Aufflackern des Krieges wäre ihr außerordentlich abträglich. Da sie nicht erwartet, daß die Tschetschenen so schnell klein beigeben, ist sie mit höchst bescheidenen Erfolgsmeldungen schon zufrieden. Nach außen vermittelt das den Eindruck einer vernunftgeleiteten Politik. Im Kreml könnte man aber auch anders spekulieren: Zeichnet sich bei den Wahlen ein Sieg der Rotbraunen ab, könnte man eine „Zuspitzung“ im Kaukasus zum Anlaß nehmen, die Wahlen zu verschieben. Klaus-Helge Donath
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