: „Aufgeben ist nicht drin“
Kurz vor den 17.000 Marathonläufern starten 177 Rollstuhlfahrer auf die 42 Kilometer: Profisportler, Amateure und Nichtbehinderte im rollenden Gefährt ■ Von Adrian Prechtel
Jogging mit Clinton: Neben dem Präsidenten „joggt“ ein Rollstuhlfahrer. Solche Szenen im US- Fernsehen sind „Bewußtsein schaffend“, meint Reiner Pilz. Selbst auf den Rollstuhl angewiesen, bemüht er sich seit Jahren um die sportliche Integration von Behinderten beim Sportclub Charlottenburg, dem Veranstalter des Berlin-Marathon.
1981 gingen in Berlin zum erstenmal acht Pioniere im Rollstuhl an den Start. Wenn am Sonntag um 9 Uhr der Startschuß fällt, trabt nicht gleich der erste Pulk der 17.000 Läufer los, sondern 177 Rollstuhlfahrer in drei Wettkampfkategorien. Neben den mitrollenden Profis gibt es auch Menschen wie Andreas Fritz, der „Just for fun“ dabei ist. „Der Rollstuhlsport ist in vielen Vereinen bereits zu einem versnobten Leistungssport verkommen“, erklärt der Dreißigjährige.
Ganz ohne Ehrgeiz ist Fritz bei seiner dritten Teilnahme am Berlin-Marathon aber nicht: „Aufgeben gibt's nicht. Da machste dich ja zum Klops vor deinen Bekannten.“ Vor drei Jahren ist er „total naiv“ rangegangen, ohne besondere Vorbereitung und hat viereinhalb Stunden gebraucht. Seit dem trainiert Fritz zweimal die Woche. Von seiner Wohnung in Buch „joggt“ Fritz 20 Kilometer bis nach Pankow und zurück. „Alles cross- country: Bordsteine, Schienenüberquerungen und kurze Sandwege.
Zeit zur Vorbereitung hat Fritz genug. Bis einige Zeit nach der Wende arbeitete Fritz noch bei der Post. Aber als das Klima am Arbeitsplatz „unsolidarisch“ wurde und es „zwischen den Kollegen keinen Zusammenhalt mehr gab“, ging Fritz. Seine Rente reicht für Miete und Leben. Nicht aber für einen Rennrollstuhl: „Der ist so teuer wie ein Auto. In einem Verein bekommste den bezahlt. Aber dann gibts Verpflichtungen: trainieren, teilnehmen und Preise machen.“ Für diesen Druck kann sich Fritz nicht begeistern. Er setzt sich eigene Ziele: „Diesmal werde ich unter vier Stunden fahren. Und die Zeit eines Heinz Frei interessiert mich nicht.“
Heinz Frei ist seit Jahren Favorit beim Rollstuhlmarathon in Berlin. In nur einer Stunde und 22 Minuten legt er die Marathonstrecke zurück. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 8 Metern pro Sekunde. Damit rollt der Schweizer Frei mehr als eine halbe Stunde schneller als der schnellste Marathon-Läufer.
Mit der Spitze will sich Otto Hofbauer nicht messen. Er will unter die ersten 40 kommen. Seine Besonderheit: Er kommt mit dem Rollstuhl, aber nicht im Rollstuhl. Berufliche Gründe haben Hofbauer freiwillig in den Rollstuhl steigen lassen. Er war jahrelang Therapeut in einem Rehabilitationskrankenhaus. Hofbauer gründete Sportgruppen mit Behinderten und Nichtbehinderten. Arbeit und Freizeit vermischten sich immer mehr. „Als wir dann eine Rolli-Joggergruppe gründeten, war klar: gleiche Voraussetzung für alle! Und das hieß: alle im Rollstuhl.“
Dreimal die Woche fährt er nach der Arbeit jeweils knapp 30 Kilometer und kontrolliert seine Fortschritte mit Tachometer und Uhr. Angepeilte Zeit am Sonntag: Eine Stunde und fünfzig Minuten. Fünfundzwanzig Minuten schneller als das letzte Mal. „Das ist hart, und nach etwa 35 Kilometern fragt man sich schon: Wieso mache ich das eigentlich?“ Aber in Berlin bleibt ihm wenig Zeit, um über diese Sinnfrage länger nachzudenken: „Die Zuschauer machen auf der Strecke eine riesige Stimmung: Das peitscht mich sofort wieder vorwärts.“
Daß ein Nichtbehinderter im Rollstuhl teilnimmt, wirkt in Europa noch etwas ungewohnt. In Amerika geht schon jeder vierte neue Rennrollstuhl an einen Sportler ohne Handicap. Vielleicht zeigt das US-Fernsehen bald Bilder vom joggenden Clinton im fahrbahren Untersatz.
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